Drogenkrieg in Rio und Internet: Aufflammende Gewalt fordert Opfer auf allen Seiten

In den Favelas von Rio de Janeiro explodiert die Gewalt. Polizei und Drogenbanden liefern sich heftige Gefechte, wie immer gerät die Bevölkerung zwischen die Fronten. Die aktuelle Bilanz der brasilianischen UPP-Strategie: Gescheiterte Projekte, ein erheblicher Imageverlust der Polizei, verlorene Hoffnung bei der Bevölkerung auf eine Zeitenwende — und dramatische Opfer auf allen Seiten.

Junge Opfer des Drogenkriegs (Screenshot Facebook)

Ende September wurde Caio Cesar Ignacio Cardoso de Melo bei einer Attacke in einer Favela erschosssen — er wurde nur 27 Jahre alt. Kein Einzelfall, aber ein Fall der bekannt wurde, weil Caio Cesar auch die brasilianische Stimme von Harry Potter war. Hauptberuflich arbeitete er inzwischen als Polizist, in einer UPP-Einheit im Complexo do Alemão.

Caio Cesar: Die Stimme von Harry Potter

Caio Cesar: Die Stimme von Harry Potter

In Rio de Janeiro eskaliert die Gewalt, immer wieder werden Polizisten erschossen: Fast 50 Polizisten wurden allein in Rio seit Anfang des Jahres bis Juli 2015 getötet, 126 weitere Polizeibeamte wurden innerhalb oder außerhalb von Einsätzen angeschossen. Ein Polizist wurde etwa in einer Favela durch Mitglieder der Drogenbanden gefoltert, getötet und dann an ein Pferd gebunden, dass durch die Favela gejagt wurde – die Leiche des toten Polizisten wurde hinterhergeschleift. Dieser hatte seinen Bruder besucht und in seinem Fahrzeug die Polizeiuniform dabeigehabt – für die Gang Grund genug, ihn zu ermorden.

Zweifelhafte Selbstverteidigung

Auf der anderen Seite haben Polizisten in Rio Hunderte von Menschen getötet oder verletzt. Dem Institut für Öffentliche Sicherheit zufolge wurden allein von Januar bis August 459 Tote registriert, die als “Auto de resistência” (Selbstverteidigung) deklariert sind, also Verdächtige, die die Polizei in Gegenwehr erschossen hat. Mit dieser Kategorie werden aber häufig auch Tötungen von Unschuldigen verschleiert — und dann nicht mehr untersucht. In mehreren Fällen hatten Polizisten Kriminelle in Favelas, die sich bereits ergeben hatten oder unbewaffnet und verletzt waren, exekutiert.

Dazu kommen die Toten und Verletzten in der unbeteiligten Bevölkerung, die etwa bei Schusswechseln in Rios Favelas oft zwischen die Fronten geraten. Die Dunkelziffer ist hoch — die Vorfälle werden nicht alle festgehalten und angezeigt, die realen Zahlen sind daher nicht öffentlich zugänglich.

Zeugen der Gewalt

Zwei Fälle haben in Rio de Janeiro in den vergangenen Wochen große Aufmerksamkeit auf sich gezogen: der Tod des elfjährigen Lukas aus dem Complexo da Maré und des 17-jährigen Eduardo Felipe Santos Victor aus der Favela Morro da Providencia.

Der elfjährige Lukas starb bei einem Einsatz der Spezialkräfte und gilt als neuer Eduardo. Eduardo, ein 10-Jähriger Junge aus dem Complexo do Alemao war im April 2015 versehentlich von der Polizei erschossen worden, als er kurz vor die Tür seines Hauses ging — dank Smartphones und sozialen Netzwerken, die den Tod des Jungen festhielten und bekannt machten, wurde Eduardo zum Gesicht der Polizeigewalt in Rios Favelas.

Foto von Eduardo Ferreira Calei (Foto: Kinho Buttered)

Eduardo Ferreira Calei — Gesicht der Polizeigewalt (Foto: Kinho Buttered)

Im Internet, vor allem in sozialen Netzwerken, wird fast bei allen Opfern die Perspektive auf die Tötung ausgehandelt: Wie bei Eduardo kursierten auf Facebook auch bei dem jetzt erschossenen Lukas Gerüchte und angebliche Fotos des Jungen, die beweisen sollten, dass er Mitglied der Drogenbanden war. Informationen, Bilder und Videos online können sowohl zur Kriminalisierung von getöteten Jugendlichen beitragen als auch zur Aufklärung und Strafverfolgung der Tötungen.

Morde werden mit Handyvideos sichtbar

Auch der 17-jährige Eduardo Felipe Santos Victor aus der Favela Morro da Providencia starb durch die Kugeln von Polizisten. Den Tod des Jungend verwandelte erst ein Video in einen Skandal: Es zeigt Polizisten dabei, wie sie dem schon toten und in einer Blutlache liegenden Jugendlichen die Waffe in die Hand legen und abdrücken — um so ein angebliches Gefecht zu fingieren.

Falsche Beweise (Screenshot Video)

Mit dem Handy festgehalten: Falsche Beweise (Screenshot Video)

So sollte der exekutierte Teenager zu einem weiteren Fall der Selbstverteidigung werden. Doch Anwohner filmten die Manipulation des Tatorts aus einem Fenster mit dem Mobiltelefon mit.

Das mobile Beweismaterial dokumentiert ein Fehlverhalten der Polizei, das der Favela-Befriedungspolizei UPP und auch anderen staatlichen Sicherheitskräften immer wieder vorgeworfen wird. Es bestätigt die Kritiker, die sagen, die UPP sei korrupt, würde ausschließlich zum Töten in die Favela kommen und die arme Bevölkerung von vorneherein kriminalisieren. 65 Prozent der Bewohner von Rios Favelas haben dem Marktforschungsinstitut Data Favela zufolge in ihren Siedlungen Angst, zum Opfer von Polizeigewalt und Machtmissbrauch zu werden.

Streit um die Deutungshoheit: Drogengangster oder unschuldige Zivilisten

Wie nach solchen Morden üblich protestierten Favelabewohner gegen die Hinrichtung unschuldiger Favelabewohner und vor allem junger Männer, die grundsätzlich potentiell als Täter eingestuft werden. Wenige Tage nach dem Mord an Eduardo Felipe verbreitete sich ein Video in den Netzwerken, dass den 17-Jährigen tatsächlich beim Dealen von Drogen zeigte.

Seitdem tobt ein Meinungskrieg. Die einen beschweren sich, dass das Video des dealenden Eduardo Felipe durch die Favelafeindlichen klassischen Medien und Spezialkräfte wie die Bopes lanciert und verbreitet werden würde. Einige schwanken und verurteilen die Gewalt im Allgemeinen. Andere verteidigen das harte Vorgehen der Polizei gegen Kriminelle.

Smartphones und Internet haben die Dynamik rund um die Gewalt in Rio verändert: Sie machen sichtbar, was vorher unsichtbar blieb — sei es der Machtmissbrauch der Polizei oder auch kriminelle Verbindungen von getöteten Favelabewohnern.

Tod durch Querschläger

Kaum ist das Jahr der WM in Brasilien vorbei, überschlagen sich die schlechten Nachrichten. In Rio de Janeiro sind schon im Januar dieses Jahres viele Menschen durch Querschläger ums Leben gekommen. Die Zahl der Toten allein in diesem Monat hat die Hälfte der Toten insgesamt von 2013 in Rio erreicht, gab das Institut für öffentliche Sicherheit heraus.

Bopes bei der Besetzung der Rocinha (Credits: BuzzingCities)

Bopes bei der Besetzung der Rocinha (Credits: BuzzingCities)

Die 21-jährige Adrienne N. starb in der Rocinha durch eine Kugel, als sie ihren einjährigen Sohn auf dem Arm trug. In Bangu im Norden Rios starb eine Vierjährige durch eine Kugel in den Kopf. Zwei Tage später wurde ein neun Jahre alter Junge beim Aussteigen aus einem Schwimmbecken in Guadalupe, ebenfalls im Norden Rios, getötet. Der 16-jährige Rafael S. erlitt einen Schulterschuss, während er einen Drachen steigen liess. Er liegt mit seinen Verletzungen noch im Krankenhaus in Penha.

Seit 2008 führt das Sekretariat für Sicherheit Statistiken über Tote und Verletze durch Querschläger. Bis 2013 zählte die Behörde 891 getroffene Personen, von denen 62 starben.

Bei Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Drogenbanden werden häufig Unbeteiligte getroffen. In den Gassen der Favelas ist das Risiko, von einer solchen Kugel getroffen zu werden, groß.