Vermummt: Rios Sicherheitskräfte dürfen jetzt Sturmhauben tragen

In mexikanischen Hotspots des Drogenkriegs wie Juárez oder Torreón patrouillieren Sicherheitskräfte mit Totenkopfmasken oder sichern vermummt Tatorte ab – in Rio de Janeiro arbeiteten Polizei und Militärs bisher meist mit offenem Visier.

Truppe mit Einsatz: Bald vermummt (Foto: Jaroschewski)

Truppe im Einsatz: Bald vermummt unterwegs? (Foto: Jaroschewski)

Doch jetzt sollen auch brasilianische Sicherheitskräfte in Rio de Janeiro Sturmhauben tragen dürfen: Rios oberster Sicherheitsbeauftragter José Mariano Beltrame hat bestimmten Einheiten die Maskierung mit Balaklavas erlaubt. Die Begründung klingt plausibel: Sicherheitskräfte können so nicht von Kriminellen wiedererkannt und ermordet werden, die Masken sollen aber auch Hals- und Kopfbereich der Polizisten schützen.

Verhüllung bei Spezialeinsätzen und Protesten 

“Es ist eine notwendige Ausrüstung für bestimmte Polizeiaktivitäten, und ihr Einsatz sollte vom Kommandeur der Truppe gebilligt werden”, so Beltrame. “Es ist kein Gegenstand, der einfach nur das Gesicht verhüllen soll.” Nicht nur zur Anlässen wie Geiselbefreiungen, sondern auch bei Veranstaltungen wie Demonstrationen könnten etwa Spezialeinsatzkräfte der BOPE oder der Schock-Truppe bald vermummt arbeiten.

Doch gerade bei Protesten ist der Einsatz maskierter Sicherheitskräfte umstritten: Bei den brasilianischen Massendemonstrationen 2013 war die Polizei äußerst brutal gegen Demonstrierende vorgegangen. Damals war ein Gesetz gebilligt worden, dass die Polizei-Maskierung bei Protesten verbieten sollte.

Auch in den Favelas wird die Vermummung kritisiert: “Wenn sie jetzt schon mit sichtbarem Gesicht und ihrer ID so gewaltsam sind, wie wird es erst sein, wenn sie ihr Gesicht verdecken?”, so Favela-Aktivist Raull aus dem Complexo do Alemao über die “Ninja-Masken”.

Auch Amnesty International warnt davor, dass die Polizei in Rio de Janeiro eine “lange Geschichte von Menschenrechtsverletzungen” habe – “Und oft ist die Schwierigkeit, individuelle Polizisten zu identifizieren, ein Hindernis, in Verbrechen involvierte Polizisten zur Rechenschaft zu ziehen.” Amnesty ist nicht grundsätzlich gegen den Einsatz der Sturmhauben, fordert aber eine Möglichkeit, wie Sicherheitskräfte in umstrittenen Fällen dennoch identifiziert werden könnten – etwa durch Nummern-IDs.

Polizei erschießt 10-Jährigen im Complexo do Alemão

Foto von Eduardo Ferreira Calei (Foto: Kinho Buttered)

Foto von Eduardo Ferreira Calei (Foto: Kinho Buttered)

Vier Tote innerhalb von 24 Stunden, das jüngste Opfer war erst 10 Jahre alt: Bei den anhaltenden Polizei- und Militäroperationen im Complexo do Alemão wurde zuletzt ein kleiner Junge getötet. Eduardo Ferreira Calei wurde erschossen, während er vor dem Haus seiner Eltern im Beco da Sabino im Complexo do Alemão spielte.

Videos des blutigen Körpers des Jungen zirkulieren seit gestern durch die Netzwerke, die Anwohner beschuldigen die Polizei, dass sie den Jungen aus geringer Entfernung erschossen haben. Die Waffen der mutmaßlich beteiligten Polizisten wurden bereits zur Untersuchung konfisziert.

Auf Twitter und Facebook sorgten falsche Informationen über die Identität des getöteten Jungen für Verwirrung. Ein mutmaßlicher Polizist hat auf seinem Facebook-Profil ein Fotos eines Jungen mit Sturmgewehr gepostet und ihn als “menschlichen Müll” bezeichnet – es handelte sich aber nicht um das Kind aus dem Complexo do Alemão, bei dem keinerlei Verbindung zum Drogenhandel bekannt ist. Auch unterschiedliche Fotos des Jungen und verschiedene Namen zirkulierten online.

Anwohner organisierten sich trotz Polizeioperation zu einem kurzen Protest gegen die Gewalt im Complexo do Alemão und hielten auch eine Mahnwache für den toten Jungen ab. Online machen sie mit den Hashtags #GuerraNoAlemão und #SOSCOMPLEXODOALEMAO auf den urbanen Krieg aufmerksam, der in den Favelas des Alemão gerade stattfindet.

Mahnwache für den Jungen (Foto: Kinho Buttered)

Mahnwache für den Jungen (Foto: Kinho Buttered)

Neue Polizeistation direkt vor der Favela

Am Fuß der Rocinha wurde heute die “11. Delegacia de Polícia” eingeweiht. Etwa 40 Polizisten sollen in dem 400 Quadratmeter großen Gebäude tätig sein. Sie sollen einerseits der Befriedungspolizei UPP und der Schocktruppe die Arbeit erleichtern, indem hier etwa in der Favela festgenommene Verdächtige sofort identifiziert werden können. Andererseits dienen sie als Korrektiv zur UPP, die in den letzten Monaten mehrere Verdächtige gefoltert hat und etwa den Favelabewohner Amarildo verschwinden ließ. Spezialisierte Ansprechpartner sollen auch Opfer von häuslicher Gewalt betreuen.

Die Bewohner der Rocinha bleiben skeptisch – und fragen sich, warum die Polizeistation nicht mitten in der Rocinha gebaut wurde, sondern davor. Denn die Schießereien fanden in den vergangenen Wochen vor allem im oberen Teil der Favela statt, wo die Polizeipräsenz geringer ist.

Die nächste Favela-Polizeistation soll am 27. Dezember im Complexo do Alemão in Rios Nordzone eingeweiht werden – neben der Rocinha eine der Favelasiedlungen, die in der UPP-Kategorisierung auch “Rotlichtstatus” besitzt, in denen es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Drogengangs und Polizei, zu Schießereien, kommt.

Neue Polizeistation (Foto: BuzzingCities)

Neue Polizeistation (Foto: BuzzingCities)

Am Tag der Einweihung der neuen Station heute war die Polizeipräsenz insgesamt erhöht, Verkehrskontrollen wurden durchgeführt, aber auch Einheiten der Schocktruppen rollten wieder durch die Favela bzw. hatten sich am Eingang der Favela positioniert. Laut wurde es aber nur aufgrund des Weihnachtsrummels: In der Via Appia drängelten sich die Menschen mit vollgepackten Tüten von Geschäft zu Geschäft, auch die Bars waren gut besucht.

Schocktruppe am Eingang der Rocinha (Foto: BuzzingCities)

Schocktruppe am Eingang der Rocinha (Foto: BuzzingCities)
Weihnachtseinkauf (Foto: BuzzingCities)

Via Appia: Vorweihnachtlicher Konsumrausch (Foto: BuzzingCities)

 

UPDATE / Sonntag
Die erste Frau soll sich bereits bei der neuen Polizeistation gemeldet haben, da ihr Mann sie schlägt. Und lange blieb es nicht ruhig in der Rocinha – heute Morgen kam es wieder zu Schießereien in der Cachopa.

 

 

Tägliche Schüsse: “Dort, wo es knallt”

Seit einigen Wochen kommt es in der Rocinha immer wieder zu Schusswechseln, doch so nah wie heute waren die Schüsse hier oben noch nie. Zwei Dächer von unserem Haus entfernt tauchte sogar auf einmal ein Polizist auf der Terrasse auf. Ein anderer Polizist wurde O Globo zufolge wurde bei den heftigen Schießereien angeschossen und schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht, auch zwei Anwohner wurden angeschossen.

Schusswechsel, Polizeisirenengeheul, Geräusche von Verfolgungsjagden durch die Favela – seit Montag vergangener Woche wird die Rocinha fast täglich zum Schauplatz von Schießereien – zwischen den rivalisierenden Fraktionen der Drogengang “Amigos dos Amigos” (ADA), den UPP-Polizisten (Unidade de Polícia Pacificadora) und den Polizisten der Schocktruppe (Batalhão de Choque).

  • Am Montag sowie Dienstag fanden Schießereien statt.
  • Am vergangenen Mittwoch war es während des Fußballspiels um den brasilianischen Meister zu einer Schießerei gekommen, die Lage beruhigte sich dann aber relativ schnell – Bewohnern zufolge soll es sich um einen Schusswechsel zwischen Gangmitgliedern gehandelt haben, die gerade intern um die Macht ringen.
  • Am Donnerstagmorgen hatten deshalb bereits mehr UPP-Polizisten als sonst in der Rocinha patroulliert, nachmittags war eine Kolonne von sieben schwarzen, gepanzerten Wagen der Schocktruppe Batalhão do Choque durch die Favela gerollt – mit dem Einsatz wollten die staatlichen Sicherheitskräfte Präsenz zeigen. Um Mitternacht herum kam es erneut zu ausgedehnten Schießereien – eine Patrouille war im Beco do Máscara, in der Rua 3 von Gangmitgliedern überrascht worden, ein Polizist wurde dabei in Gesicht und Hände geschossen.
  • Freitag ebenso.
  • Inzwischen finden die Schießereien auch tagsüber statt – etwa am Montag, gegen 10 Uhr und 17 Uhr.
  • Gestern gab es Schießereien während des heftigen Gewitters – “Es regnet Kugeln”, oder “Kugelregen”, so die Zustandsbeschreibung in den sozialen Netzwerken.
  • Heute, in der Nacht des 6. Dezember erneut (siehe oben). Ein Polizist und zwei Bewohner angeschossen.
  • Nachtrag: Hatten uns gerade (7. Dezember, 8:45 am) über einen ruhigen Morgen gefreut, als wieder minutenlang Schüsse krachen. Jetzt Polizeiauto-Geräusche unten am Berg. Auf die Frage, wo in der Rocinha sie wohnen würden, antworten einige Favelabewohner über Facebook schon “Vietnam” oder “Dort, wo es knallt”.

Man wartet schon fast auf die täglichen Schießereien. Die Auseinandersetzungen scheinen immer heftiger zu werden, trotz – oder teils auch gerade wegen – extrem hoher Polizeipräsenz. Ein Einwohner kommentierte kürzlich, die Rocinha sei “gesetzloses Gebiet”, vor allem im oberen Teil der Favela patrouilliere die Polizei kaum.