Covid 19: Coronakrise in Rio de Janeiros Favelas

Schlechte hygienische Bedingungen, dichtgedrängtes Zusammenleben und eingeschränkter Zugang zu Wasser und Reinigungsmitteln: Die Gefahr, dass sich das Coronavirus in den Favelas rasant ausbreitet, ist enorm – Bewohner versuchen, dagegen anzukämpfen.

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Tuberkulose und andere Krankheiten sind in Favelas wie der Rocinha in Rio de Janeiro weit verbreitet, in manchen Teilen der Siedlungen ist der Zugang zu Wasser eingeschränkt – und soziale Distanz ist in Rio de Janeiros Armensiedlungen häufig nicht umsetzbar. Die Coronakrise hat Brasilien erreicht: Mehr als 22.000 Coronafälle sind bestätigt und mehr als 1.200 Menschen sind an den Folgen des Virus gestorben – und gerade in den dichtbesiedelten Favelas droht eine rasante Ausbreitung des Virus. Continue reading

Wahltag in der Favela Rocinha: Werbung bis zur letzten Minute

Handzettel, Flaggen und Plakate: Die ganze Favela Rocinha war voller Wahlwerbung, obwohl politische Kampagnen am Wahltag verboten sind. Politiker und Kampagnenhelfer haben versucht, Wechselwähler bis zum letztem Moment zu überzeugen.

Wahlhelfer standen auf der Brücke zur Rocinha und haben aggressiv Werbung für Kandidaten gemacht: “Wir stehen quasi mit einem Fuß im Gefängnis”, so ein Helfer eines Wahlkampfteams. Dass die Praxis illegal ist, störte allerdings keinen. Die Polizeipräsenz war ohnehin minimal – in der größten Favela von Rio sind die Drogengangs längst wieder die eigentliche Macht, die Polizei zieht sich zunehmend zurück. Gerade einmal eine Handvoll von Polizisten sicherte zentrale Punkte in der größten Favela von Rio.

Die Schlangen zur Abstimmung waren auch in der Rocinha lang. Die Präsidentschaftswahlen zerreissen nicht nur das Land – sondern auch Familien und Paare aus der Favela. Eine junge Frau, deren Freund Bolsonaro gewählt hat, hat aus Protest eine ungültige Stimme abgegeben. Ihre Lösung für den privaten Frieden: “Wir diskutieren nicht über Politik.”

Auch Wähler aus der Favela haben für Bolsonaro gestimmt, obwohl er nicht die Interessen der Armen verfolgt – sie wollen daran glauben, dass der rechte Hardliner durchgreifen, für Sicherheit sorgen wird und setzen wie er auf traditionelle Werte. Andere haben Bolsonaro aus Protest gewählt, weil sie der Arbeiterpartei PT misstrauen.

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Kugelhagel an Weihnachten

Selbst während der Weihnachtsfeiertage erschüttern immer wieder Schießereien die Rocinha, Rios größte Favela. 

Kugelhagel an Weihnachten (Foto: Rocinha em Foco)

Kugelhagel an Weihnachten (Foto: Rocinha em Foco)

“Ich war mit meinem vier Monate alten Baby zuhause in der Rua 2, wir haben versucht uns in der Küche vor dem Bad vor den Schüssen zu schützen, und meine Wohnung wurde von Kugeln getroffen – die Fotos sind vom Bad und vom Balkon”, berichtet die Bewohnerin Mariana der Facebookseite Rocinha em Foco, auf der sich Bewohner gegenseitig vor Schießereien warnen.

Die Rua 2 sei extrem, kommentiert auch Valéria: “Wer nicht zuhause ist, weiss nie, wo in dieser Straße die nächste Schießerei stattfindet – diese unendlichen Schießereien zerstören die Häuser und die Familien haben weder zuhause noch außerhalb ihrer Häuser einen Moment der Ruhe.”

Während der Weihnachtsfeiertage gab es immer wieder Schießereien in der Rocinha. Fast jeden Tag finden Operationen der Spezialeinheiten statt. Am Mittwoch haben Sicherheitskräfte bei einer Razzia erneut Kokain, Granaten und Munition sichergestellt. Die Spezialeinheit Bope hat auf dem Instagram-Account der Truppe düstere Weihnachtsgrüße hinterlassen. Munition werde verschwendet und die Kugeln würden meistens die falschen Häuser treffen, beschwert sich eine Bewohnerin.

Weihnachtsgrüße von der Elitetruppe Bope (Foto: Bope)

Weihnachtsgrüße von der Elitetruppe Bope (Foto: Bope)

Am 16. Dezember 2017 wurde ein Jugendlicher bei einem Fußballplatz in der Rocinha getötet. Die Sicherheitskräfte geben an, dass der 15-Jährige im Drogenhandel gewesen sei, und auch ein Gewehr in der Nähe gefunden wurde. Die Version der Familie allerdings lautet anders: Sie sagt, dass die Sicherheitskräfte von einer Terrasse aus auf Jugendliche geschossen hätte, die gerade Fußball spielten.

Drogenkrieg in der Rocinha: Cachorrão, rechte Hand von Rogério 157 verhaftet

Die Polizei hat eine der Schlüsselfiguren im Drogenkrieg in der Favela Rocinha festgenommen: Alberto Ribeiro Sant’anna alias “Cachorrão” wurde in der Favela Morro do Fogueteiro in Santa Teresa gefasst.

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Cachorrão auf dem Titelbild von “Meia Hora” (Foto: BuzzingCities Lab)

Auf den flüchtigen Kriminellen war ein Kopfgeld ausgesetzt, auch seine Frau wurde festgenommen. Der 35-Jährige gilt als rechte Hand von Rogério 157, dem Drogenboss, der den eigentlichen Chef der Rocinha – Nem – ablösen wollte. Nem koordiniert den Drogenhandel in der Favela aus dem Gefängnis heraus.

Rogério 157 war eingesetzt worden, um die Geschäfte der Gang vor Ort zu managen – handelte aber immer eigenmächtiger. Nem erteilte seiner ehemaligen rechten Hand daraufhin einen Platzverweis. Mittlerweile hat Rogerio 157 die Gang gewechselt, eine Kriegserklärung gegenüber dem ehemaligen Boss.

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Militär in der Rocinha (Foto: Bruno Itan)

Seit September erschüttert nun ein brutaler Krieg um die Herrschaft Rio de Janeiros größte Favela. Die Konflikte zwischen den verfeindeten Lagern führten in den vergangenen zwei Monaten zu stundenlangen Schießereien, zudem versuchen beide Fraktionen gezielt Mitglieder der rivalisierenden Gruppe auszuschalten, mehrere Gangmitglieder wurden ermordet. Aufgrund der Auseinandersetzungen rückte im September auch das Militär zeitweise in die Favela ein, um die Situation in den Griff zu bekommen. Rogério 157 befindet sich derzeit auf der Flucht.

Cachorrão (dritter von links) mit anderen Gangmitgliedern (Foto: Disque Denuncia)

Cachorrão (dritter von links) mit anderen Gangmitgliedern (Foto: Disque Denuncia)

Die Neuvermessung der Stadt: Favelas auf der Karte

Mapa Riotur: Grüne Hügel statt Favelas (Screenshot)

Mapa Riotur: Grüne Hügel statt Favelas (Screenshot)

Auf Stadtkarten unterschlagen, von Google Maps gelöscht: Immer wieder werden die Favelas von Rio de Janeiro unsichtbar gemacht. Mit digitalen Karten und anderen kollaborativen Projekten verschaffen Favelabewohner den Armenvierteln online eine neue Präsenz.

Rio de Janeiro, weichgezeichnet für Touristen: Dort, wo eigentlich Hunderttausende Menschen leben, sind in der Stadtkarte von Riotur, der Tourismusbehörde, nur grüne Hügel zu sehen, mehrere Favelas sind einfach verschwunden. “Zwei Millionen von Menschen einfach ausgelöscht”, kritisiert Michele Silva, die in Rios größter Favela Rocinha lebt. “Die Karte repräsentiert Rio nicht.” Es ist nicht das erste Mal, dass Favelas in der Stadt mit den mehr als 1000 Favelas nicht auf offiziellen Karten auftauchen – was Silva als “Hygienepolitik” anprangert. Zusammen mit ihrem Bruder Michel und einem Team von Jugendlichen aus der Favela hat sie eine eigene Karte der Rocinha entwickelt, die auch mehr als 100 kulturelle Punkte enthält, die Mapa Cultural da Rocinha.

Mapa Cultural da Rocinha (Screenshot)

Mapa Cultural da Rocinha (Screenshot)

Da die offizielle Vermessung der Stadt Favelas bis heute oft ausschließt, erobern sich die Bewohner selbst die Sichtbarkeit zurück: „Stell dir vor, du lebst in einer Siedlung mit mehr als 20.000 Menschen, aber sie erscheint auf keiner Karte“, so die NGO AfroReggae. „Im Fall von Parada de Lucas war es lange genau so – mit Hilfe der Bewohner ändert sich das jetzt.” Die Favela Parada de Lucas liegt im ärmlichen Norden der Strandmetropole Rio de Janeiro, dort, wo sich zahlreiche Wohnviertel der unteren Mittelschicht erstrecken und Armenviertel aus Hunderttausenden Ziegelhäusern, wohin sich kaum ein Tourist oder wohlhabender Brasilianer verirrt.

Mit der Initiative „Tá no mapa“, „Es ist auf der Karte“ von AfroReggae haben junge Favelabewohner eine virtuelle Karte ihres Viertels erstellt, die auf Läden, Restaurants, Plätze, Kirchen oder Sehenswürdigkeiten aufmerksam macht. „Eine Karte ist mehr als eine Karte – sie ist auch ein Existenzbeweis“, so AfroReggae.

Im Internet verschaffen Favelabewohner ihren Vierteln mehr Sichtbarkeit, berichten in Blogs und sozialen Netzwerken über das Geschehen in den Favelas oder vermessen die Stadt mit kollaborativen Online-Karten wie „Tá no mapa“ neu, um auch die positiven Seiten der Armenviertel zu zeigen.

Wie Legosteine aufeinandergestapelte Ziegelhäuschen, Labyrinthe aus schmalen Gassen, Straßen ohne Namen, Territorien, in denen Drogenbanden mit Maschinengewehren patrouillieren, Städte in der Stadt: Jahrzehntelang waren die brasilianischen Favelas unzugängliche Siedlungen, in denen eigene Gesetze herrschen.  Synonyme für Armut, Gewalt und Kriminalität – manche Favelas nur ein paar Schritte von den Vierteln der Wohlhabenden entfernt, viele so abgelegen, dass sich ihre Existenz verdrängen lässt. Als Schandflecken wurden die Siedlungen, in denen mehr als ein Viertel der Bewohner Rios lebt, von den offiziellen Stadtkarten verbannt, sogar von Google Maps.

VON GOOGLE MAPS GELÖSCHT

Als Google die Armenviertel im Internet anzeigte, war das für viele Brasilianer ein Schock: Auf der virtuellen Karte von Rio de Janeiro poppten überall Favelas auf, sie lenkten optisch von den etablierten Stadtvierteln und Sehenswürdigkeiten wie der Christusstatue oder dem Zuckerhut ab. Seit 2009 betrieben der Bürgermeister von Rio, Eduardo Paes, und die städtische Tourismusagentur Riotur deshalb Lobbyarbeit – und setzten tatsächlich durch, dass der Begriff „Favela“ in Rio größtenteils von Google Maps gelöscht wird.

Die meisten Favelas werden nur noch mit ihrem Namen angezeigt, oder mit dem Begriff „Morro“ davor, Hügel – ein brasilianisches Synonym für Favela, das aber kaum ein Ausländer versteht. Und viele sind nur Farbkleckse auf Google Maps, weil online höchstens Hauptstraßen angezeigt werden. Die kleineren Straßen und Gassen, die in Favelas vorherrschen, bleiben unsichtbar.

In einem Google-Forum beschwert sich ein Nutzer namens  “Boctok” darüber, dass die Armenviertel in anderen brasilianischen Städten wie Recife, Fortaleza, Maceió oder João Pessoa immer noch explizit gekennzeichnet werden. Er wünscht sich, dass die Armenviertel von der Karte verschwinden – wie in Rio de Janeiro.

„Die virtuelle Löschung ist Teil des städtischen Projekts, das Armut und die Armen verstecken soll – sowohl virtuell als auch real, wie mit Zwangsumsiedelungen”, kritisiert dagegen das Comite Popular von Rio, eine Vereinigung von NGOs und Sozialaktivisten.

MIT DEM MOBILTELEFON DIE FAVELA KARTIEREN

Auch die 23-jährige Suellen Casticini aus der Favela Morro Agudo findet, dass es ein Grundrecht ist, auf einer Karte verzeichnet zu sein. Sie hat 2013 bei der Initiative „Wikimapa“ gearbeitet – und mit dem Mobiltelefon Orte in der Favela fotografiert und auf eine virtuelle Karte  hochgeladen. In den Medien werde höchstens von Kriminalität in den an die Favela Morro Agudo angrenzenden Vierteln berichtet, sagt sie. Niemand wisse, dass es in der Favela auch Schönes gebe, wie Wasserfälle oder Feste.

Die Wikimapa-Karten verschaffen einen Überblick über Sehenswürdigkeiten, Kirchen, Krankenhäuser, Schulen, Sportzentren, Organisationen, Restaurants, Bars, Bushaltestellen, Läden und Straßen in Favelasiedlungen wie Complexo da Maré, Cidade de Deus, Santa Marta, Pavão Pavãozinho und Complexo do Alemão in Rio – und ständig fügen die Reporter neue Favelas hinzu.

Hinter dem Projekt „Wikimapa“ steht die NGO Rede Jovem, die seit dem Jahr 2000 versucht, den Wandel der Favelas mit Internet und Mobiltechnologie voranzutreiben. 16 feste Wikireporter und Freiwillige haben inzwischen an der virtuellen Verortung der Favelas mitgearbeitet.

VIRTUELLE KARTEN

Die Wikireporter sind zwischen 16 und 25 Jahre alt, internetaffine Jugendliche und junge Erwachsene, die in einer Favela leben und sich dort gut auskennen. Nach einem dreitägigen Workshop lernen sie mit dem Handy Fotos aufzunehmen und Videos zu produzieren, mit der Wikimapa-Webseite und der App umzugehen, mit der sie Fotos und Informationen verorten.

Die virtuellen Karten sollen nicht nur den Blick von außen verändern, sondern wirken auch nach innen: Die Favelabewohner entdecken vieles, was sie selbst noch nicht kannten – und manche Geschäftsinhaber hoffen, dass der Eintrag kostenlose Werbung für sie ist.

„Ich glaube, dass solche Initiativen helfen, Vorurteile zu brechen“, so Wikireporterin Casticini. Mit der Internetpräsenz allein werden sich die Favelas zwar nicht in normale Stadtviertel mit ausreichender Infrastruktur verwandeln. Aber die virtuelle Sichtbarkeit kann dazu beitragen, dass auch abgelegene Favelas wie Morro Agudo oder Parada de Lucas als Teil von Rio de Janeiro wahrgenommen werden, stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken.

 

Eine Fassung des Beitrags erschien bei VOCER, die Version wurde um ein Update erweitert

Memória Rocinha: Das digitale Gedächtnis der Favela

Vergessene Geschichte: Das Multimedia-Projekt Memória Rocinha gibt online einen Einblick in die Historie der Favela Rocinha, die von einer Handvoll selbstgebauten Hütten zu einem eigenen Stadtteil gewachsen ist und mittlerweile einen ganzen Berghang bedeckt. Die Entwicklung der informellen Siedlung, die die Bürgerjournalisten und Historiker erforscht haben, reicht von 1860 bis heute. Die wichtigsten Meilensteine, Fotos sowie Video-Interviews mit Zeitzeugen, eine Karte, prägende Favela-Institutionen und Geschichten werden auf der Plattform Memória Rocinha präsentiert, an der auch unser Favelareporter Michel Silva mitgewirkt hat.

Michel Silva auf der Spur der Geschichte (Screenshot: Memória Rocinha)

Michel Silva auf der Spur der Geschichte (Screenshot: Memória Rocinha)

Polizei und Kriminelle als Komplizen: Mordkomplott gegen Polizeichefin

In Rios größter Favela Rocinha planten Drogengangster die Ermordung der Polizeichefin der Befriedungspolizei UPP. Polizisten halfen ihnen dabei. Der korrupte Polizeiapparat in Brasilien verhindert eine effektive Bekämpfung der Kriminalität.

Eine kleine Frau, dunkle Locken, sympathisches Lachen: Pricilla Azevedo sollte der Polizei wieder ein nettes Gesicht verleihen, das Versprechen der Befriedungspolizei UPP einlösen, eine Polizei der Nähe zu sein. Sie hatte Major Edson als Chef der Einheit ersetzt, einen ehemaligen Soldat der BOPE-Spezialeinheit. Er war mit weiteren Polizisten verhaftet worden: Sie hatten den Favelabewohner Amarildo festgenommen, zu Tode gefoltert, die Leiche verschwinden lassen – und das letzte Vertrauen in die UPP zerstört, auch weit über die Favela Rocinha hinaus.

Azevedo stand für einen sozialen Policing-Ansatz, der die Bevölkerung wieder mit der Polizei versöhnen sollte. Doch Drogengang und auch Kollegen von Azevedo sahen in der neuen Chefin vor allem einen Störfaktor für ihre Geschäfte.

Mehrere korrupte Polizisten, die mit dem Drogenboss Rogerio kooperierten, verrieten ihm ihre Arbeitsroutine – und legten ihm nahe, die Polizeichefin schnell zu töten – damit erneut ein Ex-Elitesoldat an ihre Stelle rücken könnte. „Er ist ein Freund von uns, und er liebt Geld“, schrieb ein Polizist an den Drogenboss – also ein guter Deal für alle Seiten. Im Februar 2014 wurde der Plan entdeckt, erst jetzt hat die Justiz den geplanten Mordanschlag öffentlich gemacht.

Azevedo wurde versetzt, sie ist heute Polizeisprecherin der Befriedungspolizei – zu dem geplanten Mordanschlag auf sie hat sich die Polizistin bisher nicht geäußert.