Olympia-Auftakt: BuzzingCities Lab bei Tagesschau24 über die Lage in Favelas

Während heute in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele eröffnet werden, werfen Korruption und massive Militarisierung einen Schatten auf das Megaevent – und Rios Favelas kämpfen mit Gewalt. Die Unzufriedenheit bei vielen Brasilianern ist groß, zahlreiche Proteste sind für heute angekündigt.

Julia kommentiert im Live-Interview mit Tagesschau24 die Situation in Rios Favelas und die Sicherheitslage nach den Terrordrohungen.

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House of Cards: Brasiliens Skandalpolitik

Lula umringt von Anhängern (Foto: Jaroschewski)

Umstrittener Ex-Präsident: Lula umringt von Anhängern beim Berlinbesuch (Foto: Jaroschewski)

Die politische Schlammschlacht in Brasilien nimmt absurde Ausmaße an — Vergleiche mit der Polit-Serie “House of Cards” zeigen zahlreiche Skandal-Parallelen auf. Mitten in einem Korruptionsskandal, der sich durch alle Parteien und die gesamte politische Spitze Brasiliens zieht, hat Präsidentin Dilma Rousseff den brasilianischen Ex-Präsidenten Lula zum Kabinettschef ernannt. Mit diesem Posten wäre Lula durch die Immunität vor den laufenden Ermittlungen gegen ihn geschützt — zumindest vorerst.

Über brasilianische Medien hat der Bundesrichter Sergio Moro daraufhin Telefonate zwischen Dilma und Lula geleakt, die den zweifelhaften Freundschaftsdeal betreffen. Die Opposition feiern Moro jetzt als Whistleblower im Kampf für die Demokratie, Kritiker prangern den Justizmissbrauch an. Kurz nach der Zeremonie wird die Ernennung Lulas von einem Richter allerdings wieder für ungültig erklärt.

Mit diesem Schachzug, ihren Mentor Lula, aus dem Visier der Ermittler zu retten, macht sich Präsidentin Dilma Rousseff, deren Beliebtheitswerte ohnehin im Sinkflug sind, noch angreifbarer — die Opposition, die die Amtsenthebung beziehungsweise den Rücktritt der Präsidentin fordert, ist allerdings ebenso korrupt. Führungspersönlichkeiten aller Parteien sind in den Korruptionsskandal verwickelt, mehrere Abgeordnete parkten Schwarzgeld im Ausland, wie in Liechtenstein.

In den sozialen Netzwerken, aber auch offline beschimpfen sich Kritiker und Unterstützer der Regierung, aber auch die von jeglicher Politik Enttäuschten. In der Hauptstadt Brasilia prügelten sich Demonstrierende, auch mit Holzlatten im Einsatz. Alle schimpfen auf „die Lügenpresse“ und werfen der jeweils anderen Seite schmutzige Tricks und Populismus vor, auch die Fronten in der Bevölkerung verhärten sich.

Neue Proteste gegen teure Tickets

An der Ticketpreiserhöhung im Nahverkehr haben sich in Brasilien erneut Proteste entzündet – in Städten wie São Paulo, aber auch Rio und Belo Horizonte sind die Brasilianer auf die Straßen gegangen. An diesem Samstag sind die Ticketpreise für Busse, Metro und Nahverkehrszüge von 3,50 auf 3,80 Reais gestiegen.

Gerade für Brasilianer, die nur ein geringes Monatseinkommen haben, machen die paar Cents mehr pro Ticket im Monat tatsächlich einen eklatanten Unterschied im Budget aus. Zudem sind die Ticketpreise ein Symbol für den harten Sparkurs während der Krise auch im sozialen Bereich – während Millionen in die Großereignisse WM und Olympia geflossen sind und ein politischer Korruptionsskandal das Land erschüttert.

Die Größe der Sozialproteste 2013 erreichten die neuen Proteste allerdings nicht. In São Paulo wurden 17 Protestierende von der Polizei festgenommen. Wie auch bei Protesten in der Vergangenheit kam es zu Zusammenstössen zwischen einigen Protestierenden und Polizisten. Busse brannten, einige Banken wurden beschädigt. Videos, die Aktivisten auf Facebook hochgeladen haben, zeigen aber auch, wie die Polizei Schlagstöcke und Pfefferspray gegen Demonstrierende einsetzt.

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190 Tage mit Schießereien

Im Complexo do Alemão haben die Bewohner am Wochenende erneut gegen die anhaltende Gewalt demonstriert. Ein Jahr vor den Olympischen Spielen ist die Situation im Alemão so gefährlich wie nie zuvor. Fast kein Tag verging in diesem Jahr ohne Schusswechsel zwischen Polizei und Drogengangs: An 190 Tagen – 81 Prozent aller Tage in diesem Jahr – haben Schießereien die Bewohner des Complexo do Alemão in ihren Häusern gefangen gehalten, viele Menschen wurden angeschossen oder getötet.

Proteste Complexo do Alemão (Credit: Julia Jaroschewski)

Complexo do Alemão (Foto: Julia Jaroschewski)

„Kommt raus aus Facebook“, forderte eine Favelabewohnerin ihre Bekannten auf Facebook am Wochenende auf. Denn das Internet ist zwar wichtig, um die Gewalt sichtbar zu machen und Proteste zu organisieren. Doch solange sich die Beteiligung vieler nur auf die sozialen Netzwerke beschränkt, kann kein wirklicher Wandel entstehen.

Vila Cruzeiro: Junger Mototaxi-Fahrer von Polizei erschossen

Foto: Facebook Vila Cruzeiro

Foto: Facebook Vila Cruzeiro

In Vila Cruzeiro, einer Favela im Norden Rio de Janeiros, hat der Tod eines jungen Mototaxi-Fahrers heute einen Tumult ausgelöst. Polizisten wollten den Motorradfahrer anhalten, er stoppte zu spät – ein Polizist schoss ihm in den Rücken. Der 22-Jährige starb noch auf der Straße.

Doch es handelte sich weder um eine Verfolgungsjagd mit Kriminellen, noch um Selbstverteidigung. Der Mototaxifahrer trug nur seine Taxifahrer-Weste über Shirt und Shorts, er war wohl gerade im Dienst.

Aufgebrachte Favelabewohner und Kollegen des Mototaxistas filmten den Polizisten, der den jungen Mann erschossen haben soll mit Handykameras, einige warfen mit Steinen und zündeten Gegenstände an. Die Polizei gab Warnschüsse ab, um die Menge zu zerstreuen. Soldaten der Spezialeinheit BOPE versuchten, die Proteste aufzulösen.

Proteste in São Paulo: Polizisten schlagen mit Skateboard zu

Die brasilianische Polizei verwechselt Proteste immer noch mit einem urbanen Krieg. Bei Demonstrationen in São Paulo am Freitag ist es erneut zu brutalen Attacken gekommen. Mit Schlagstöcken prügelten mehrere Polizisten auf einen bereits am Boden liegenden Mann ein, einer der Polizisten schlug ihm mit einem Skateboard ins Gesicht. Der brasilianische Sender TV Record hat die Gewaltarie gefilmt (unten auf der Seite).

Die Proteste in São Paulo hatten sich wieder gegen Fahrpreiserhöhungen in São Paulo gewandt – es war bereits der vierte Protest seit Monatsbeginn, den die Bewegung MPL (Movimento Passe Livre) organisiert hatte. Etwa 3000 Personen nahmen an dem Protestzug teil.

Die Demonstrierenden liefen etwa drei Stunden friedlich durch die Stadt, dann eskalierte die Gewalt. Mindestens sechs Personen wurden festgenommen, ein Reporter der Zeitung Estado de S. Paulo wurde von einem Gummigeschoss der Polizei am Bein verletzt. Randalierer beschädigten vier Bankfilialen.

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Polizeiskandal: Mord an dem Tänzer “DG”

Die Polizei in Rio ruiniert wiederholt ihren Ruf mit einem Skandal – aufgerollte Ermittlungen legen nahe, dass sie für den Tod von Douglas “DG” Rafael da Silva Pereira verantwortlich sind. Im April hatten Favelabewohner aus dem Pavão-Pavãozinho an der Straße vor der Favela protestiert, nachdem der junge “DG” tot aufgefunden worden war.

Seiner Mutter zufolge waren die Proteste damals ausgebrochen, weil die Favelabewohner verhindern wollten, dass der Körper des jungen Mannes ohne Spurensicherung abtransportiert wird. Die Favelabewohner werfen der Polizei vor, ihn getötet zu haben – und die Zweifel scheinen berechtigt.

Einem ersten forensischen Gutachten zufolge konnten die Ermittler keine Schusswunde entdecken. Auf Druck der Mutter und ihrer Unterstützer hin wurde die Leiche nun erneut von der Polícia Civil in Rio de Janeiro untersucht – die kamen zu einem anderen Fazit. Die Todesursache soll eine tödliche Kugel gewesen sein. Zwei der neun Polizisten trugen am Todestag von “DG” eine in Frage kommende Waffe, Kaliber .40, mit sich.

Zweifelhafte Beweise

Aussagen der Polizisten zufolge hatten sie sich eine Schießerei mit Mitgliedern einer Drogengang geliefert, die verschiedenen Versionen zufolge zwischen 30 Minuten und einer Stunde gedauert haben soll, “DG” soll dabei geflüchtet sein. Neben seiner Leiche wollen die Polizisten auch ein Walkie Talkie gefunden haben, die von Drogendealern in den Favelas oft benutzt werden. Mehrere Zeugen sprechen dagegen von in einem kurzem Zeitraum abgegebenen Schüssen, keiner Schießerei.

Die Mutter von “DG” glaubt, dass Polizisten ihren Sohn geplant gefoltert und exekutiert haben, weil er Ärger mit einem UPP-Befriedungspolizisten hatte. Sie hatte sich in den vergangenen zwei Monaten für eine Aufarbeitung des Falles eingesetzt.

Der Tod des jungen Mannes hatte im April ein internationales Medienecho ausgelöst – weil plötzlich Straßenbarrikaden in der Nähe der Strände, den Stadtvierteln Copacabana und Ipanema brannten und weil Douglas Rafael da Silva Pereira als Tänzer für eine TV-Show des größten brasilianischen Medienkonzerns “O Globo” gearbeitet hatte. Tragischerweise hatte der junge Mann auch in einem Kurzfilm mitgespielt, in dem er seinen eigenen Tod vorwegnimmt – der Film sollte gegen die Polizeigewalt in Rio und die Kriminalisierung von jungen Favelabewohnern protestieren. Nach dem Tod von “DG” protestierten auch Jugendliche aus anderen Favelas mit einer Kampagne in den sozialen Netzwerken gegen die tödliche Willkür. Ein Einzelfall ist der Tod von “DG” nicht.