Als die Judo-Kämpferin Rafaela Silva bei den Olympischen Spielen für Brasilien Gold gewann, setzte sie auch ein Zeichen gegen den Rassismus in Brasilien. Doch selbst eine Goldmedaille hilft im Alltag nicht.
Als junge, schwarze Frau, die aus der Cidade de Deus (City of God) in Rio de Janeiro kommt, einer der berüchtigten Favelas der Stadt, war Rafaela Silvas Sieg bei Olympia auch eine Goldmedaille für alle benachteiligten Bewohner der ungleichen Stadt. Sie wurde zum Symbol dafür, dass jemand, der kaum Chancen hatte, durch harte Arbeit den Aufstieg schafft.
Doch auch die Athletin ist im Alltag von Rassismus und Racial Profiling durch die Sicherheitskräfte betroffen – Polizisten behandelten sie wie eine Kriminelle und kontrollierten sie, als sie mit einem Taxi nach Hause fahren wollte. “Es geschah mitten auf der Avenida Brasil und alle sahen zu, und dachten, die Polizei hätte einen Banditen geschnappt, dabei war es nur ich, die nach Hause wollte”, schreibt sie auf Twitter, wo sie die Kontrolle ausführlich beschrieben hat.
Auch in der Cidade de Deus (City of God) selbst ist das Erbe von Olympia längst zerbröckelt – der Drogenkrieg tobt, die Siedlung wird vom Staat vernachlässigt und es sind vor allem Favelabewohner selbst, die nach Alternativen abseits der Gewalt suchen (Video).
Impeachment und Politskandale, Wirtschaftskrise, Olympische Spiele, Proteste, Drogenkrieg und digitale Black Power: Trends und Ereignisse, die Brasilien 2016 verändert haben – und wie es weitergeht.
#1 Die Spiele
Mit den Olympischen Spielen ist in Brasilien eine Ära zu Ende gegangen – die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung ist Vergangenheit. Immerhin: Viele Infrastrukturprojekte wie der Metro- und Straßenausbau, die Renovierung des Hafengeländes, aber auch Projekte in Rios Favelas wären ohne die Megaevents gar nicht realisiert worden, oder zumindest nicht so schnell (auch wenn viele Millionen an den falschen Stellen versickert sind).
Die Spiele selbst waren trotz Terrorangst ein organisatorischer Erfolg, auch wenn wie immer viel improvisiert wurde. Bis zuletzt wurde an Stadien und Straßen gebaut, die zum Teil kurz vor den Spielen wieder eingestürzt sind, wie der Fahrradweg am Meer. Unsere Bilanz der Olympischen Spiele im Interview mit Das Filter.
#2 Gold für die Favela
Die Goldmedaille für die Judo-Kämpferin Rafaela Silva – als schwarze, junge Frau aus einer Favela in dreifacher Hinsicht eine Ausnahme – aus der Cidade de Deus (City of God) hat immerhin sogar viele Favelabewohner kurzzeitig für die Spiele begeistert. Grundsätzlich hat die Kritik an den Megaevents und den versenkten öffentlichen Geldern aber dominiert.
#3 Die Rechnung
Nach der Party: ein Trümmerhaufen. Denn die Stadt Rio de Janeiro ist pleite. Schon für die Durchführung der Spiele und Sicherheit musste der Bundeshaushalt zusätzliche Mittel bereitstellen. Auch unter der 2016 abgesetzten Ex-Präsidentin Dilma Rousseff wurde bereits radikal der Rotstift angesetzt, doch der neue Präsident Temer will das Land jetzt mit einem noch radikaleren Sparkurs sanieren. Die Haushaltssanierung geht dabei zu Lasten von zentralen Bereichen wie Gesundheit und Soziales – und trifft vor allem die, die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind. Angestellte des Öffentlichen Dienstes werden schon seit Oktober nicht mehr bezahlt.
Ist Dilma Rousseffs Amtsenthebung ein Putsch? Ist Nachfolgepräsident Michel Temer ein legitimes Regierungsoberhaupt? Wer ist im brasilianischen Parlament nicht in ein Korruptionsverfahren verwickelt? Wird der umstrittene Richter Sergio Moro irgendwann fallen? House of Cards made in Brazil: Nichts war so dramatisch wie die politische Lage, nichts so intrigant und wendungsreich wie die politische Schlammschlacht zwischen Parteien und Politikern, aber auch Justiz. Fast täglich änderten sich in 2016 Vorsitzende von Ausschüssen, Parteien, politische Funktionen – und ebenso die Schuldzuweisungen für die katastrophale Lage im Land.
Nachdem Dilma Rousseff, die vermeintlich kriminelle Präsidentin, abgesetzt wurde, werden fast täglich neue Prozesse gegen Parlamentarier, Sprecher und sonstige Politiker eröffnet. Es war länger bekannt, dass die Baufirma Odebrecht in den Korruptionsskandal verwickelt ist – doch nach und nach werden die Ausmaße des Korruptionssumpfes öffentlich. “Würden die Verantwortlichen sprechen, könnte das ganze Land fallen”, kommentierte ein Odebrecht-Mitarbeiter das Ausmaß des landesweiten Korruptionsskandals, allerdings im Off-the-Record-Gespräch.
Inzwischen brachten seine Schwarzgeldkonten den Ex-Parlamentsvorsitzenden Eduardo Cunha zu Fall – der seinerseits das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff ins Rollen gebracht hatte. Im November 2016 wurden sogar Rio de Janeiros prominenter Ex-Gouverneur Sergio Cabral und dessen Frau verhaftet. Er soll mindestens 60 Millionen Euro Schmiergelder für die Vergabe von Bauprojekten für WM und Olympische Spiele kassiert haben.
#5 Drogenkrieg und Gewalt
Vor acht Jahren hat die UPP, Rios Befriedungspolizei, mit der Dona Marta in Botafogo die erste Favela besetzt, um die Stadt vor den Megaevents sicherer zu machen. Der Ansatz, Rios von Drogengangs beherrschte Armenviertel mit einer neuen Polizeistrategie und sozialen Maßnahmen in die Stadt zu integrieren, war sinnvoll – ist aber gescheitert. Strategische Fehler, Rio`s Policing-Historie, mangelnde Ressourcen, Korruption, aber auch das Sicherheitsrisiko durch neue Konflikte zwischen Drogengangs und Polizei haben die Gewalt zum Teil noch befördert. Auch der Drogenkrieg zwischen organisierten Banden und deren Territorialkämpfe haben die Stadt in den vergangenen Monaten erschüttert. Die Sicherheitslage und das Erbe der UPP in Rios Favelas haben wir in unserem Interview mit Jung & Naiv diskutiert – live aus der Favela Rocinha.
2017 wird das Jahr der digitalen Black Power-Bewegung: Mit Twitter, Facebookseiten, Plattformen, aber auch schwarzen Youtubestars werden POC-Stimmen, selbst aus den Favelas, sichtbarer – und sie vernetzen sich zunehmend global.
Mit den Megaevents wurden Kamerasysteme und die Überwachung aus der Luft, aber auch das Monitoring in Favelas massiv ausgebaut – eine Infrastruktur, die auch nach den Spielen erhalten bleibt.
“Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl leben seit Jahren in Rios Favelas und berichten von dort. Die deutschen Journalistinnen interessieren sich für das Leben in den brasilianischen Armutsvierteln, wo sie mikroskopisch beobachten, wie Sicherheitsprozesse und Polizeiarbeit funktionieren bzw. nicht funktionieren, wie Kriminalität entsteht und sich entwickelt.
Tilo trifft die beiden Reporterinnen in Rocinha, der größten Favela Südamerikas mit mehr als 300.000 Bewohnern und will von Julia & Sonja wissen: Was ist überhaupt eine Favela? Zahlen die Menschen Miete oder lebt jeder, wie er oder sie will? Gibt es Schulen, Strom, Müllabfuhr und eine Wasserversorgung? Warum leben die beiden in einem offenbar so gefährlichen Viertel? Welche Macht haben die Drogengangs? Kennt man die Drogenbosse? Was heißt das, wenn die Polizei eine Favela besetzt? Ist das eine Invasion? Haben Favelas ihre eigenen Regeln und Gesetze? Warum ziehen Menschen aus ganz Brasilien überhaupt eine Favela?”
O que comove Rio de Janeiro nas últimas horas das Olimpíadas? Qual é o legado dos jogos? E o que vem depois de Rio 2016?
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Sobre nos: Julia Jaroschewski e Sonja Peteranderl são repórteres alemãs, fundadoras do BuzzingCitiesLab, um think tank focando na tecnologia, segurança publica e processos de transformações sociais de mega cidades, como as favelas cariocas ou os Townships da Africa do Sul. Elas trabalham e acompanham os processos e desenvolvimento nas favelas cariocas desde 2008, baseados na Rocinha no Rio de Janeiro. Para saber mais: BuzzingCitiesLab.com e Favelawatchblog.com
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Kinder fangen bei ihrem Anblick an zu weinen, vor kurzem hat sie an einer Schule eine Performance vorgeführt, die Jugendlichen waren schockiert. „Wenn ich mit dem blauen Auge auf der Straße herumlaufe, erschrecken sich die Leute“, sagt Blackyva. „Es symbolisiert die alltägliche Gewalt, die ich ertragen muss, und die auch meine Mutter erlitten hat“ – Gewalt in der Familie, dazu noch dreifache Diskriminierung. Denn Blackyva ist schwarz, transsexuell, lebt in einer Favela, der Rocinha, dem größten Armenviertel von Rio de Janeiro. Das blaue Auge hat sie kämpferisch zu ihrem Markenzeichen gemacht. Heute nur noch mit Make-up.
Die 22-Jährige will Menschen schockieren, damit sie beginnen, die Dinge in Frage zu stellen. In ihren Performances verarbeitet sie eigene Probleme und Konflikte, in den persönlichen Erfahrungen spiegeln sich aber auch die großen sozialen Herausforderungen, die Brasilien bewältigen muss: die massive Einkommensschere, Rassismus, Diskriminierung, Gewalt, die Schwierigkeit, als junger, schwarzer, armer Brasilianer zu sich selbst zu finden – und zu einer Stimme.
Querschläger aus Rios Favelas (Foto: Julia Jaroschewski/BuzzingCities)
Brasilianischer Drogenkrieg trifft auf Olympische Spiele: Das Pressezentrum der Reitarena in Deodoro wurde von einem Querschläger getroffen – Journalisten fanden die Kugel.
Währenddessen hatten die Proben für Reitwettbewerbe bereits angefangen, niemand wurde verletzt. Auch aufgrund der aktuellen Terrorwarnung war die Aufregung aber groß. Verteidigungsminister Raul Jungmann war vor Ort, um die Spurensicherung und Ermittlung zu verfolgen – auch weil das Olympische Reitsportgelände auf Militärgelände liegt, der Militärreitschule.
Mário Andrada, dem Olympia-Sprecher zufolge, war der Schuss aber nicht gegen Olympia gerichtet und auch keine gezielte Attacke: „Es gibt kein Risiko.“
In Deodoro finden zwar auch Sportschießwettbewerbe statt, die Kugel stammte aber offenbar aus einer der nahegelegenen Favelas: Der Sportkomplex in Deodoro befindet sich nur 2,5 Kilometer von der Favela „Minha Deusa“, in der gegen 13 Uhr heftige Schießereien stattfanden.
In den Favelas von Rio de Janeiro treffen Querschläger immer wieder in Häuserwände ein oder durchschlagen sie, zahlreiche Menschen wurden in der Vergangenheit bei Auseinandersetzungen zwischen Drogengangs oder Gang und Polizei von Querschlägern getötet.
While the Olympic Games ceremony was celebrated, protests took over the streets today – also next to Maracana stadion police and soldiers clashed with protestors, greedy scenes with police using rubber bullets and tear gas
Rio 2016: Fünf Stunden Warten auf Aussagen zur Sicherheit – ohne Ergebnis (Foto: BuzzingCities)
Aufregung in Rio de Janeiro: Nach dem Terroranschlag in Nizza diskutiert auch die Olympiastadt Rio das Risiko eines Terroranschlags – auf den die Stadt nicht ausreichend vorbereitet wäre. In Notfallsitzungen kamen in der Hauptstadt Brasilia und in Rio de Janeiro Beteiligte aller Ressorts, Geheimdienst, Sicherheitskräfte und Experten zusammen, um die Sicherheitsstrategie für Rio zu diskutieren.
Die Taktik des Tages: Besprechungen in nicht-öffentlichen Marathon-Sitzungen. Und die Probleme dann kleinzureden – oder gar nicht zu reden.
Nach stundenlangem Warten auf die angekündigte Pressekonferenz im Medienzentrum des Rio 2016-Komitees in Rio de Janeiro war die öffentliche Stellungnahme von Rios Bürgermeister Eduardo Paes kurz und inhaltsleer.
Paes bekräftigte, die Stadt sei “supersicher” und werde auch während der Olympischen Spiele absolut sicher sein — entsprechende Maßnahmen würden ergriffen werden. Zu konkreten Schwachstellen und Maßnahmen äußerte sich vor der Presse keiner der Sitzungsteilnehmer, die zuvor für die Pressekonferenz angekündigt worden waren. Die wartenden Journalisten wurden an die Pressestelle der Bundesregierung weiterverwiesen.
Nach einer Sitzung in der Hauptstadt Brasilia kommentierte Sérgio Etchegoyen, der leitende Minister des Kabinetts für Öffentliche Sicherheit (GSI), dass es arrogant und eine “monumentale Verantwortungslosigkeit” sei, die Sicherheitspläne für Olympia in Rio nach dem Terroranschlag in Frankreich nicht zu überarbeiten. Es sei vor Nizza unvorstellbar gewesen, dass ein Fahrzeug als Waffe für einen Terroranschlag missbraucht werden könne (Anm.: In palästinensischen Gebieten/Israel haben Attentäter in der Vergangenheit mehrfach Traktoren und andere Fahrzeuge in Menschenmengen gesteuert).
Olympische Spiele: Mehr Patrouillen, Fahrzeugsperren (Foto: BuzzingCities)
Nun soll unter anderem die Isolation der Olympia-Stätten geprüft und deren Zugänglichkeit mit Fahrzeugen eingeschränkt werden. Olympia-Besucher müssen mit verstärkten Personenkontrollen rechnen. Auch an touristischen Orten abseits der Spielstätten wie in Seitenstraßen der Copacabana oder Leblon werden Sicherheitskräfte zusätzliche Patrouillen einrichten. Viel Zeit bleibt für die Überarbeitung des Sicherheitskonzeptes nicht: In 21 Tagen beginnen die Spiele bereits.
Ein bisschen weniger als 100 Tage sind es noch, bis Rio de Janeiro zum Schauplatz der Olympischen Spiele wird. Die Olympische Fackel ist schon auf dem Weg, doch die Stadt ist mit unzähligen Problemen statt mit sportlicher Euphorie beschäftigt. Die politische Krise weitet sich immer stärker aus, Dilmas Gegner treiben den Sturz der Präsidentin voran, Proteste und Gegenproteste finden statt und Meinungsunterschiede werden mittlerweile auch handgreiflich ausgetragen. Die Gesellschaft war noch nie so gespalten wie im Olympiajahr.
Rio ist auch geschockt vom Einsturz des Fahrradweges Ende April, durch den zwei Menschen gestorben sind – ein Prestigeprojekt, das zum Drama wurde, weil Risiken wie der hohe Wellengang am Strand offenbar nicht mitkalkuliert worden waren. Der Unfall ist zum Symbol für schlechte Planung und Pfusch rund um die Megaevents geworden. Auch der Prüfbesuch vom Koordinationsstab des Olympischen Komitee (IOC) in der vergangenen Woche setzt die Stadtregierung unter Druck. Fazit: “Es gibt Tausende Details, die noch gemanaged werden müssen“. Die großen Ziele wie die Wasserreinigung und eine funktionierende Kanalisation, die die Stadt auch über die sportlichen Großereignisse hinaus nachhaltig verändern hätten können, bleiben ohnehin Utopie.
Dazu kommen Budgetkürzungen im Kontext der Wirtschaftskrise – sie wirken sich auch auf Rios Favelas aus. Die UPP-Befriedungspolizei ist überfordert, zu schlecht ausgebildete Teams mit zu wenig Personal operieren am Limit und stärken so auch den Kreislauf der Gewalt. Amnesty International zufolge sind von Januar bis März 2016 bei Polizeieinsätzen zehn Prozent mehr Menschen getötet worden als im Vergleichszeitraum 2015. Allein in den ersten drei Aprilwochen wurden mindestens elf Menschen getötet.