5 Gründe warum heute in Brasilien alles passieren kann

Wer wird Brasilien in Zukunft regieren? Alles ist möglich an diesem Wahlsonntag in Brasilien, an dem die entscheidende Stichwahl für das Präsidentenamt stattfinden wird: Die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff der Arbeiterpartei PT und der sozialdemokratische Herausforderer Aécio Neves (PSDB) liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei den Wahlen 2014 handelt es sich um eine der unerwartetsten und spannendsten Wahlen der brasilianischen Geschichte. Doch warum ist die Entscheidung selbst für Experten so unvorhersehbar?

Kopf an Kopf rennen: Aecio holt auf den letzten Metern leicht auf

Kopf-an-Kopf-Rennen: Aécio hat auf den letzten Metern nochmal aufgeholt

1. Die Wahl ist knapp, verdammt knapp. 

Aécio Neves konnte in den letzten Tagen vor der Wahl nochmals zulegen – die beiden Kandidaten liegen nur wenige Prozentpunkte auseinander.

2. Das Marina-Phänomen: Medien und Marktforschungsunternehmen gestalten den Wahlkampf mit – und können weit danebenliegen.

Schon der erste Wahldurchgang Anfang Oktober war eine Überraschung. Niemand hätte geglaubt, dass Aécio Neves überhaupt den ersten Durchgang übersteht. In den Umfragen lag er weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Stattdessen hatte sich ein Frauen-Duell um die Macht im Land abgezeichnet: zwischen Dilma Rousseff und der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva, der im Vorfeld große Chancen eingeräumt wurden. Silva selbst war erst durch einen Schicksalsschlag zur Kandidatin geworden – als Eduardo Campos, der eigentliche Kandidat der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB) bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.

Doch es war Marina Silva, die ehemalige Kautschukpflückerin, die zwar eine Geschichte, aber keine konsistenten politischen Ideen präsentieren konnte, die ausschied – Aécio Neves konnte unerwartet mit 34 Prozent der Stimmen punkten, während Rousseff etwa 41 Prozent auf sich vereinte. Marina Silva war auch ein mediengemachtes Phänomen: Vor allem von internationalen Medien wurde sie zur Hoffnung Brasiliens hochgeschrieben: obwohl es viel Kritik an Silva gab, die im Wahlkampf ihre ehemaligen politischen Meinungen aufgab, für viele zu wenig politische Erfahrung aufwies, von der man nicht wusste, für welche Politik sie eigentlich steht.

Auch die brasilianischen Medien mischten im Wahlkampf mit, sie schrieben Kandidaten hoch und herunter, lancierten Gerüchte im Vorfeld der Wahlen – so grub eine Zeitung in Archiven ein älteres Interview mit dem jungen Aécio aus, der sagte, er habe sein Bett noch nie selbst gemacht. Auch die Zahlen der politischen Marktforschungsunternehmen sind mit Vorsicht zu genießen: Die Washington Post kritisiert, dass bei nur vier brasilianischen Instituten, die die Wahlumfragen erstellen, ein “gesunder Wettbewerb” fehlt, der Verzerrungen verhindert. 

3. Den Wunschkandidaten gibt es nicht. 

Viele werden an diesem Sonntag nicht ihren Wunschkandidaten, sondern das kleinere Übel wählen. Denn der Wunsch nach Wandel ist groß, doch es ist unklar, wer das Land tatsächlich positiv verändern kann. Die Beliebtheit von Dilma Rousseff in Brasilien ist durch die WM, aber auch durch die Wirtschaftsentwicklung, die Inflationsrate in den letzten Jahren gesunken – zudem ist von ihr, der amtierenden Präsidentin, der große Wandel eher nicht zu erwarten. Ihre Arbeiterpartei PT ist inzwischen zwölf lange Jahre an der Macht.

Selbst Brasiliens Arme, die eine wichtige Wählermasse darstellen, sind gespalten: Auch Favelabewohner wünschen sich Veränderung. Andererseits: Aécio Neves, Sohn einer Mehrgenerationen-Politikerfamilie und Playboy, verkörpert eher das Establishment und Unternehmerinteressen als die Verringerung sozialer Ungleichheit. Brasiliens ist sich uneins: Die Fronten ziehen sich quer durch Familien, auch quer durch die Favelas.

 4. Jede Partei hat versucht, den Herausforderer als das größere Übel darzustellen – mit einer politischen Schlammschlacht. Selbst Nazi-Vergleiche fehlten nicht.

Beide Lager, inklusive der Medien, haben sich vor allem in den letzten Tagen eine Schlammschlacht geliefert. Das brasilianische Magazin “Veja” hatte am Freitag vor der letzten öffentlichen TV-Duell den Vorwurf lanciert, dass Dilma Rousseff über Korruption und Geldwäsche beim staatlichen Energiekonzern Petrobras Bescheid gewusst haben soll.

Aécio Neves wurde zuvor als Kokser dargestellt. Ex-Präsident Lula, der Dilma Rousseff unterstützt, verglich die politischen Angriffe von Aécio Neves und seiner Anhänger im Nordosten mit dem “intoleranten” Vorgehen der Nazis im Zweiten Weltkrieg – Aécio Neves erinnerte der Wahlkampf der Arbeiterpartei PT an die Propaganda von Joseph Goebbels im nationalsozialistischen Deutschland.

5. Brasilianer müssen wählen – doch Protestwähler und gekaufte Stimmen verzerren das Ergebnis.

In Brasilien ist Wählen Pflicht – und bei 143 Millionen stimmberechtigten Brasilianern wird es wieder eine Vielzahl ungültiger Stimmabgaben geben, sowie gekaufte Stimmen. Am Tag des ersten Wahldurchgangs Anfang Oktober hatten Helfer von Abgeordneten etwa im Bundesstaat Maranhão Beutelchen mit kleineren Summen verteilt, um Wähler kurz vor dem Gang zur Urne zu beeinflussen.

Stimmenkauf hat auch in den Favelas eine lange Tradition. Kriminelle Gruppen kontrollieren, wer in den bevölkerungsreichen Armenvierteln Wahlwerbung betreiben darf und die Stimmen erhält. So wurden auch mehrere Politiker im Vorfeld des ersten Wahldurchgangs daran gehindert in Favelas wie der Rocinha Wahlplakate aufzuhängen oder Wahlkampfveranstaltungen abzuhalten.

 

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