Rio 2016: Was bleibt

15540434_10154819429063615_1131919758_o.jpg

Impeachment und Politskandale, Wirtschaftskrise, Olympische Spiele, Proteste, Drogenkrieg und digitale Black Power: Trends und Ereignisse, die Brasilien 2016 verändert haben – und wie es weitergeht.

#1 Die Spiele

Mit den Olympischen Spielen ist in Brasilien eine Ära zu Ende gegangen – die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung ist Vergangenheit. Immerhin: Viele Infrastrukturprojekte wie der Metro- und Straßenausbau, die Renovierung des Hafengeländes, aber auch Projekte in Rios Favelas wären ohne die Megaevents gar nicht realisiert worden, oder zumindest nicht so schnell (auch wenn viele Millionen an den falschen Stellen versickert sind).

filter_rocinha

Die Spiele selbst waren trotz Terrorangst ein organisatorischer Erfolg, auch wenn wie immer viel improvisiert wurde. Bis zuletzt wurde an Stadien und Straßen gebaut, die zum Teil kurz vor den Spielen wieder eingestürzt sind, wie der Fahrradweg am Meer. Unsere Bilanz der Olympischen Spiele im Interview mit Das Filter.

bildschirmfoto-2016-08-16-um-16-55-34.png

#2 Gold für die Favela

Die Goldmedaille für die Judo-Kämpferin Rafaela Silva – als schwarze, junge Frau aus einer Favela in dreifacher Hinsicht eine Ausnahme – aus der Cidade de Deus (City of God) hat immerhin sogar viele Favelabewohner kurzzeitig für die Spiele begeistert. Grundsätzlich hat die Kritik an den Megaevents und den versenkten öffentlichen Geldern aber dominiert.


#3 Die Rechnung 

Nach der Party: ein Trümmerhaufen. Denn die Stadt Rio de Janeiro ist pleite. Schon für die Durchführung der Spiele und Sicherheit musste der Bundeshaushalt zusätzliche Mittel bereitstellen. Auch unter der 2016 abgesetzten Ex-Präsidentin Dilma Rousseff wurde bereits radikal der Rotstift angesetzt, doch der neue Präsident Temer will das Land jetzt mit einem noch radikaleren Sparkurs sanieren. Die Haushaltssanierung geht dabei zu Lasten von zentralen Bereichen wie Gesundheit und Soziales – und trifft vor allem die, die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind. Angestellte des Öffentlichen Dienstes werden schon seit Oktober nicht mehr bezahlt.

Neue Bündnisse haben sich gebildet, die etwa gegen die eingefrorenen Gehälter, den Stellenabbau und die Kürzungen im Kulturbereich protestieren und neue Initiativen vorantreiben wollen. Julia hat etwa für den Deutschlandfunk über den Künstler-Protest berichtet. 


#4 Politisches Chaos

Ist Dilma Rousseffs Amtsenthebung ein Putsch? Ist Nachfolgepräsident Michel Temer ein legitimes Regierungsoberhaupt? Wer ist im brasilianischen Parlament nicht in ein Korruptionsverfahren verwickelt? Wird der umstrittene Richter Sergio Moro irgendwann fallen? House of Cards made in Brazil: Nichts war so dramatisch wie die politische Lage, nichts so intrigant und wendungsreich wie die politische Schlammschlacht zwischen Parteien und Politikern, aber auch Justiz. Fast täglich änderten sich in 2016 Vorsitzende von Ausschüssen, Parteien, politische Funktionen – und ebenso die Schuldzuweisungen für die katastrophale Lage im Land.

Nachdem Dilma Rousseff, die vermeintlich kriminelle Präsidentin, abgesetzt wurde, werden fast täglich neue Prozesse gegen Parlamentarier, Sprecher und sonstige Politiker eröffnet. Es war länger bekannt, dass die Baufirma Odebrecht in den Korruptionsskandal verwickelt ist – doch nach und nach werden die Ausmaße des Korruptionssumpfes öffentlich. “Würden die Verantwortlichen sprechen, könnte das ganze Land fallen”, kommentierte ein Odebrecht-Mitarbeiter das Ausmaß des landesweiten Korruptionsskandals, allerdings im Off-the-Record-Gespräch.

Inzwischen brachten seine Schwarzgeldkonten den Ex-Parlamentsvorsitzenden Eduardo Cunha zu Fall – der seinerseits das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff ins Rollen gebracht hatte. Im November 2016 wurden sogar Rio de Janeiros prominenter Ex-Gouverneur Sergio Cabral und dessen Frau verhaftet. Er soll mindestens 60 Millionen Euro Schmiergelder für die Vergabe von Bauprojekten für WM und Olympische Spiele kassiert haben.

#5 Drogenkrieg und Gewalt

Vor acht Jahren hat die UPP, Rios Befriedungspolizei, mit der Dona Marta in Botafogo die erste Favela besetzt, um die Stadt vor den Megaevents sicherer zu machen. Der Ansatz, Rios von Drogengangs beherrschte Armenviertel mit einer neuen Polizeistrategie und sozialen Maßnahmen in die Stadt zu integrieren, war sinnvoll – ist aber gescheitert. Strategische Fehler, Rio`s Policing-Historie, mangelnde Ressourcen, Korruption, aber auch das Sicherheitsrisiko durch neue Konflikte zwischen Drogengangs und Polizei haben die Gewalt zum Teil noch befördert. Auch der Drogenkrieg zwischen organisierten Banden und deren Territorialkämpfe haben die Stadt in den vergangenen Monaten erschüttert. Die Sicherheitslage und das Erbe der UPP in Rios Favelas haben wir in unserem Interview mit Jung & Naiv diskutiert – live aus der Favela Rocinha.


#6 Digitale Black Power

Mit Smartphones und digitalen Medien ist der Rassismus in Rio sichtbarer geworden. Die Polizei tötet vor allem junge, schwarze Männer aus den Favelas, die generalverdächtigt werden zu den Drogengangs zu gehören. Todesumstände werden oft nicht näher untersucht, die Polizisten gehen meistens straflos aus. Julia hat für die taz über die Morde berichtet – und darüber, wie digitale Initiativen gegen die Polizeigewalt kämpfen. 

Bildschirmfoto 2016-08-05 um 17.25.28

2017 wird das Jahr der digitalen Black Power-Bewegung: Mit Twitter, Facebookseiten, Plattformen, aber auch schwarzen Youtubestars werden POC-Stimmen, selbst aus den Favelas, sichtbarer – und sie vernetzen sich zunehmend global.

#7 Überwachung und Militarisierung

Polizei und Militär setzen auf Provokateure, ein Undercover-Agent spähte sogar Aktivisten bei Tinder aus: Die Überwachung von Bürgern nimmt in Brasilien zu, die Polizei geht brutal gegen Protestierende vor.

Mit den Megaevents wurden Kamerasysteme und die Überwachung aus der Luft, aber auch das Monitoring in Favelas massiv ausgebaut – eine Infrastruktur, die auch nach den Spielen erhalten bleibt.

15540434_10154819429063615_1131919758_o.jpg

Korruptionsskandale rund um die Megaevents

Seilbahn im Complexo do Alemão (Credits: BuzzingCities)

Seilbahn im Complexo do Alemão (Credits: BuzzingCities)

Die Operation „Lava Jato“ enthüllt seit 2014 immer neue Schichten des brasilianischen Korruptionssumpfes, der alle Parteien, Politiker, Unternehmer, staatliche und private Konzerne betrifft – und auch Korruption und Unregelmäßigkeiten bei der Auftragsvergabe, Planung, Konstruktion und dem Management von Projekten rund um die Megaevents offenbart.

Wie UOL Sports berichtet, hat die Stadt Rio de Janeiro die Pläne für den Olympischen Park in Rio nachträglich geändert, um die Bauunternehmen Odebrecht, Andrade Gutierrez und Carvalho Hosken zu begünstigen.

Nachdem der öffentliche Auftrag an die drei Konzerne vergeben wurde, wurde der Ursprungsplan — der Grundlage der öffentlichen Ausschreibung gewesen war – nochmals umgeschrieben: Existierende Sportstätten, deren Renovierung vorgesehen war, sollten nun abgerissen werden, Sportstätten wurden an andere Orte verlegt. So erschlossen sich den Konzernen wertvolle Baugebiete in lukrativen Lagen, die ihnen als Teilbezahlung für den Bau des Olympischen Parkes zugesprochen wurden. Nach dem Rückbau von temporären Olympia-Konstruktionen und Parkflächen können die Konzerne hier Wohnparks und andere kommerzielle Bauprojekte realisieren: eine Goldgrube.

Im Gegenzug zeigten sich die Firmen spendabel: Carvalho Hosken unterstützte die Wahlkampagne des Bürgermeisters von Rio, Eduardo Paes. Auch von Odebrecht soll Paes Geld erhalten haben.

Fälle wie diese stellen das in Rio im Zuge der Megaevents promotete Modell von Public-Private-Partnerships in Frage. Privatwirtschaftliche Unternehmen können Großprojekte zwar im Idealfall effektiver und professioneller umsetzen, so dass die Stadt auf kurze Sicht gewinnt. Doch wenn Stadtplanung vor allem von privatwirtschaftlichen, gewinnorientierten Interessen gesteuert wird, kann das Städte teuer zu stehen kommen.

Die Korruption reicht bis in die Favelas
In Brasilien haben die Unregelmäßigkeiten längst auch die Favelas erreicht. Die Gondelbahn, die im Complexo do Alemão als Leuchtturmprojekt errichtet wurde und Favelabewohner und Touristen über die Favelas schweben lässt, ist Teil des Skandals.

Die Seilbahn wurde von 2011 bis März 2016 von SuperVia betrieben, einer Firma der Gruppe Odebrecht Transport. Die Betreiber verdienten auch an  Zahlentricks: Die Gehälter von Mitarbeitern, die dort nie angestellt waren, flossen etwa in die abgerechneten Betriebskosten ein. Bei 194 Angestellten wurden die Gehälter auf dem Papier zum Teil verfünffacht, so dass die abgerechneten Kosten höher erschienen. So wurden die öffentlichen Kassen, die ohnehin am Limit sind, zusätzlich belastet.