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Rio 2016: Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Julia hat für das E + Z-Magazin ein Olympia-Wrapup geschrieben, das nun veröffentlicht wurde. Das aktuelle politische Chaos ist zwar noch nicht inklusive, der Artikel gibt aber einen Überblick über all das, was Rio de Janeiro sich vor den Megaevents Fußball-WM 2014 und Olympische Spiele 2016 vorgenommen hatte – und was davon übrig geblieben ist. Immerhin: “Auch wenn sich die Hoffnungen auf Frieden in den Favelas und fundamentalen Wandel durch die Megaevents nicht erfüllt haben, haben die Großereignisse den Blick der Stadt auf sich selbst verändert.”
Neuer Fahrradweg in Rio stürzt ein – mindestens zwei Tote
Ausblick über das Meer, eine Traumstrecke für Fahrradfahrer, neuer Stolz der Olympiastadt: Erst am 17. Januar 2016 war der neue Fahrradweg an der Avenida Niemeyer in Rio eröffnet worden. Den “schönsten Fahrradweg der Welt” hatte Bürgermeister Eduardo Paes die Strecke bei der Einweihung genannt, der die Stadtteile São Conrado und Leblon verbindet. Doch nun ist ein Teil des Fahrradweges eingestürzt – zwei Menschen sind gestorben, zwei weitere Vermisste werden derzeit noch gesucht.
Ganze 50 Meter Strecke sind in die Tiefe gestürzt. Eine Katastrophe, deren Ursachen bisher noch unklar sind: Handelt es sich um Fehlplanungen, oder Materialfehler? Noch im Jahr 2014 hatten Bauarbeiter des Radweges demonstriert, weil sie sich unterbezahlt fühlten und ihre Arbeitskonditionen unzureichend seien.
Auch an einer anderen Stelle in São Conrado hatte starker Wellengang über Nacht den Weg zum Einsturz gebracht – die Abschnitte sind nun gesperrt.
Die 3,9 Kilometer lange Fahrrad-Route war eines der Olympia-Bauprojekte gewesen, die sowohl von Bevölkerung als auch von Touristen gut angenommen wurden – die Stadtverwaltung hatte damit gerechnet, dass täglich 70.000 Personen die Strecke nutzen werden. Vor der Fertigstellung der Route mussten sich (die wenigen mutigen) Fahrradfahrer und Passanten in der steilen, kurvigen und unübersichtlichen Strecke auf den gefährlichen Straßenverkehr einlassen – doch die neue Alternative ist offenbar mindestens ebenso riskant.
Sturzfluten in Rio de Janeiro
Ausnahmezustand in Rio: Das Wasser steht meterhoch in den Straßen, mehrere Straßen wurden für den Verkehr gesperrt. In der Favela Rocinha reissen die Fluten Geröll, Dreck, sogar Motorräder mit. Social Media Videos von Favelabewohnern dokumentieren gefährliche Rettungsaktionen, bei denen die Helfer fast selbst vom Wasser mitgerissen werden. Die Straßen können nicht mehr passiert werden. Müll und die offenen Abwasserkanäle ergiessen sich über die Favela — hochinfektiös. Auch ohnehin abgesturzgefährdete Häuser am Hang könnten durch die Wassermassen und den erodierenden Boden abrutschen. 38 Favelas, vor allem in Tijuca, in der Südzone und im Zentrum wurden in den Alarmzustand versetzt. Neben der Favela Vidigal ist die Rocinha am zweitstärksten von Regen betroffen.
Update: Ein 60-jähriger Mann aus der Favela Rocinha wurde von den Wassermassen mitgerissen, bis zum Morgen wurde nach ihm gesucht. Inzwischen wurde eine Leiche gefunden, vermutlich handelt es sich um den Vermissten.
Fotos: Rocinha em Foco
Fact-Checking der Olympia-Versprechen
Countdown: Ein halbes Jahr vor den Olympischen Spielen zeichnet sich ab, welche Großprojekte tatsächlich bis zum zweiten brasilianischen Megaevent im August fertig werden. Einige ambitionierte Ziele musste Rio de Janeiro bereits abhaken. Auch die geplante wichtige Metrolinie Nummer 4 wird wohl nicht mehr pünktlich zum Großevent fertiggestellt, wurde vor kurzem bekannt — alternativ sollen Sonderbusse eingesetzt werden, die Passagiere von der Südzone zum Olympischen Park transportieren sollen.
Zwischen Rios Ambitionen für die Großereignisse und der tatsächlichen Umsetzung klafft oft eine Lücke. Budgets wurden gesprengt, Zeitpläne verzögern sich. Zentrale Vorhaben, die die Stadt nachhaltig verändert hätten, wie der geplante Bau einer Kanalisation und die nachhaltige Säuberung des Wassers bleiben vorerst eine Utopie.
Eine neue Factchecking-Agentur will brasilianische Versprechen und Statements — zu den Olympischen Spielen aber auch darüber hinaus — in Zukunft genauer unter die Lupe nehmen. Nach dem Modell von Factchecking-Plattformen wie der US-amerikanischen Plattform Politifact will die von der Journalistin Cristina Tardáguila gegründete Agentur Lupa Aussagen von Politikern auf Wahrheitsgehalt, Wahrscheinlichkeit und deren Belegbarkeit mit öffentlichen Daten prüfen. Bisher haben die Journalisten etwa eine Ankündigung von Präsidentin Dilma Rousseff von 2012 geprüft, landesweit 22 Trainingszentren zu errichten. Bisher wurden allerdings nur fünf Sportzentren fertiggestellt, fünf weitere befinden sich noch im Bau.
Schießerei: Gondelbahn im Alemão schließt eine Stunde lang
Die Gondelbahn, die über die Favelasiedlungen des Complexo do Alemão schwebt, ist ein Leuchtturmprojekt, das im Rahmen der Großevents entstanden ist: Seit 2011 soll sie den Favelabewohnern den Transport zwischen den riesigen Siedlungen des Alemão erleichtern, als Attraktion auch Touristen in die unattraktive Nordzone locken und durch Ausstellungen und Events in den Seilbahnstationen als Community-Plattform wirken.
Doch immer wieder wurde der Betrieb in den vergangenen Monaten aufgrund von Schießereien zeitweise eingestellt. Auch an diesem Samstagmorgen mussten die Seilbahnfahrten für eine Stunde unterbrochen werden — UPP-Polizisten wurden auf einer Routine-Patrouille von Drogengangstern angegriffen, eine Schießerei zwischen Sicherheitskräften und UPP-Polizisten hätte die Fahrt in ein Risiko verwandelt.
Postbote kämpft sich durch das Favela-Labyrinth
Wie viele Kilometer Ricardo jeden Tag läuft, weiß er nicht wirklich. Etliche. Ricardo ist Postbote und teilt sich die zahlreichen Gassen und Straßen der Favela Rocinha mit fünf weiteren Kollegen. Sechs Personen für mehr als 200.000 Menschen.
Aber das ist nicht die größte Herausforderung: Viele Häuser haben keine Nummer, Gassen keine offiziellen Namen. Doch für Ricardo ist das mittlerweile kein Problem mehr. Er arbeitet seit 13 Jahren als Postbote in der Rocinha. Eigentlich kommt er aus Rio Comprido, einem Stadtteil fern der Rocinha.
Mit den Schießereien ist seine Arbeit schwieriger geworden, erzählt er. Aber auch die Menge der Sendungen, und damit die Wege, nehmen zu: “Man sagt immer, wegen des Internets schreiben die Leute weniger. Das stimmt aber nicht, ich habe viel mehr Sendungen auszutragen als früher”, sagt Ricardo.
Weil die Bewohner nicht immer lokalisierbar sind, lagern in der “Filiale” der Post, diesem Raum am oberen Ende der Favela, Postkisten, aus denen sich die Bewohner ihre Sendungen selbst abholen können. Oftmals stehen auch an Eingängen von Gassen Sammelkisten für die jeweilige Nachbarschaft. Auch hier holt sich jeder selbst seine Post ab.
Mission Hochhaus
Riesenauflauf an der Rua 2 gestern Morgen, einer der Hotspots der Rocinha: Dutzende von Militärs, die die Straßenecke belagern, mit gelben Band absperren und ein Haus stürmen, während sich rundherum das Publikum sammelt. Auch ein städtischer Lastwagen ist vorgefahren. “Der wird wohl K. O. sein”, kommentiert ein Nachbar, der einen Mord vermutet.
Stattdessen steht das Haus selbst im Mittelpunkt der Aktion: Der Hausbesitzer, der von der Wohnungsknappheit profitieren wollte, hat an der Hauptstraße ein siebenstöckiges Favela-Hochhaus erbaut, da die Favela nur noch nach oben Raum zum Wachsen hat. Nun soll es abgerissen werden, weil es selbst für die bizarren Favela-Bauverhältnisse zu hoch ist – mit riesigem Sicherheitskräfteaufgebot.
Ein Mitarbeiter der Stromfirma Light balancierte auf einer wackeligen Leiter, um den Strom vor dem Haus zu kappen, auch die Abrisshämmer waren bereits ausgelegt. Allerdings musste das Kommando mittags wieder abziehen. Das Hochhaus war bereits bewohnt, es wäre auch zu gefährlich gewesen, ein siebenstöckiges Hochhaus bei enger Bebauung und viel Verkehr an der Hauptstraße abzureissen – oder zu zeitraubend, es Stein für Stein mit den Hammern abzutragen.
Überflutung vor der Favela
Vor der Rocinha steht ein Straßenabschnitt unter Wasser – entweder ist das Abwassersystem wieder massiv verstopft oder die Bauarbeiter, die seit Monaten an der neuen Metrohaltestelle vor der Favela werkeln, haben aus Versehen ein Wasserrohr angebohrt.
Shower with a view
Auf einmal kamen gestern nur noch Tropfen aus der Dusche, auch bei den Nachbarn war das Wasser weg. Irgendwo ist wieder eine Leitung gebrochen, so dass Dutzende Häuser ohne Wasser auskommen müssen.
Im vergangenen Jahr haben wir eine ganze Woche ohne Wasser gelebt, im Sommer 2014 ist es in der Rocinha sogar zu Protesten gekommen, weil Bewohner ohne Wasser auskommen mussten, sich Wasserflaschen kaufen mussten, um sich zu waschen, zu kochen, zu putzen. Heute früh haben wir uns in einem Café die Zähne geputzt. Und unser Zimmer riecht inzwischen wie die Toilette nebenan.
Das Problem sollte theoretisch schon behoben sein, doch am Wochenende passiert natürlich gar nichts. Unser Nachbar hatte immerhin noch einen Wasservorrat auf dem Dach gebunkert, dessen Leitungen parallel zum normalen Wassersystem verlaufen. So konnten wir nach knapp eineinhalb Tagen eben endlich duschen – mit unschlagbarem Blick auf die Favela.