LATIF – Lateinamerika im Fokus Kongress 2018

Drogenkrieg und Digitalisierung in Brasilien: Am kommenden Samstag geben wir beim “Lateinamerika im Fokus” Kongress in Köln einen Workshop zur Rolle von Digitalisierung in urbanen Konflikten, Wired Drug War und OSINT.

“Zwischen Klischees und Realität – Drogen und Lateinamerika” ist das Thema des diesjährigen “Lateinamerika im Fokus” Kongresses an der Universität zu Köln vom 08. – 10. Juni 2018 – mit Vorträgen und Workshops zum Drogenkrieg in u. a. Kolumbien, Mexiko, Brasilien.

re:publica17: Wired Drug War

Drohnen für Drogentransporte, soziale Netzwerke als Schauplatz im Drogenkrieg: Bei der größten Digitalkonferenz Europas re:publica haben wir einen Vortrag über den “Wired Drug War” gehalten – und wie Gangs und Kartelle Internet und High Tech nutzen.

Wie verändert Technologie den Drogenkrieg? Welche Plattformen und welche Technologien werden von kriminellen Organisationen genutzt? Wie kann man prüfen, ob hinter Social Media-Profilen tatsächlich Kriminelle stecken? Wie bewege ich mich sicher im Netz und erstelle mir ein unauffälliges Fake-Profil für die Recherche? Welche Tools eignen sich zur Visualisierung von Netzwerken und Recherchen?

Polizei als Zielscheibe: Die Drohungen der Drogengangs

Waffen, die auf Polizisten zielen: Auch soziale Netzwerke sind Schauplatz des Drogenkriegs. Auf Whatsapp, Facebook & Twitter narren die brasilianischen Gangs die Polizei. 

Waffen im Anschlag, gerichtet auf die Rücken von zwei Polizisten, die auf Motorrädern an einer roten Ampel stehen: Auf Whatsapp und Facebook zirkuliert ein Foto, auf dem drei Kriminelle ihre Macht demonstrieren. Es ist nur ein Symbolbild, doch es zeigt, wie verletzlich die Sicherheitskräfte in Rio de Janeiro jederzeit sind. Aufgenommen wurde das Foto in der Straße Rua Estácio de Sáo, in der Nähe einer Favela, im Norden von Rio.

Der Drogenkrieg ist längst auch digital, soziale Netzwerke machen die Gewalt der Gangs in Brasilien sichtbar, wie Julia auch für Spiegel Online analysiert hatte:

“Es sind grauenvolle Szenen, die aus Brasilien durch die sozialen Netzwerke zirkulieren. Bilder von Mord und Totschlag, die alltägliche Realität sind in den Armenvierteln, dort, wo Drogenbanden herrschen und ein eigenes Rechtssystem geschaffen haben. Lange galt: Was in der Favela geschieht, bleibt in der Favela. Doch dank Handys und sozialen Medien wird jetzt sichtbar, welche Gewaltherrschaft die Drogengangs ausüben.”

Immer wieder machen sich die Gangs über die Hilflosigkeit der Polizei lustig: Nehmen Fotos auf, in denen sie patrouillierenden Sicherheitskräften den Mittelfinger zeigen. Im Februar diesen Jahres filmten sich junge Männer dabei, wie sie bewaffnet in einem Auto an einem Quartier der Militärpolizei vorbeifuhren und dabei Beleidigungen brüllen, die Waffen zeigen. “Du wirst eine Kugel abbekommen, Scheisspolizist”, ruft einer der Jugendlichen in die Kamera. “Du wirst sterben, Hurensohn.”

Den Drohungen folgen Taten. In Rio de Janeiro sind allein in diesem Jahr mehr als 50 Polizisten gestorben, immer wieder werden Sicherheitskräfte angeschossen.

Digitaler Drogenkrieg in Rio de Janeiro

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Junge Männer, die hingerichtet werden, Folter von vermeintlichen Verrätern, ein Schuss in die Hand für Diebe: In Brasilien zirkulieren brutale Handyvideos, die die Gewaltherrschaft der Drogengangs offenbaren. Julia hat für Spiegel Online analysiert, wie digitale Transformation und die Verbreitung von Mobiltelefonen den Drogenkrieg in Rio de Janeiro verändern – und zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Gewalt in Rios Favelas auch für den Rest den Landes sichtbar machen.

“Die Gangs sind die Justiz, das sogenannte „Tribunal do Tráfico” ist die Gerichtsverhandlung der Drogenbanden: Mitglieder der Gang entscheiden kollektiv, welche Strafen gegen den Beschuldigten verhängt werden. Zum Beispiel die Todesstrafe mit dem Spitznamen „Mikrowelle”. Der Delinquent wird in einen Stapel Autoreifen gesteckt, sodass er sich nicht mehr bewegen kann, und anschließend bei lebendigem Leib verbrannt.” Oft sind es die Gangmitglieder selbst, die Videos der Gewalttaten online stellen – um zu protzen und Rivalen einzuschüchtern. Damit helfen sie aber auch der Justiz.

Rachefeldzug der Drogengang: Cidade de Deus im Kreuzfeuer

Schießereien, brennende Straßenblockaden, Granaten: Als Vergeltungsschlag für eine getötete Verwandte haben Kriminelle die Cidade de Deus (City of God) in einen Ausnahmezustand versetzt. Die 34-jährige Nichte von “Sam”, einem der Drogenbosse der Favela, der seit 2003 im Gefängnis sitzt, war am Morgen mit einem Schuss ins Gesicht getötet worden. Die Umstände des Mordes sind bisher unklar.

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Gangmitglieder blockierten die Hauptstraße des Viertels mit Gegenständen wie brennenden Mülltonnen oder Bettgestellen. Auch das Quartier der Befriedungspolizei UPP wurde von Kriminellen angegriffen. Spezialkräfte kamen zur Verstärkung hinzu: Die Militärpolizei von Rio war mit Panzerwagen unterwegs und suchte auch mit Helikoptern aus der Luft nach Kriminellen. Viele Bewohner waren in ihren Häusern gefangen, Buslinien, die normalerweise die Favela passieren, wurden temporär ausgesetzt. “Der Terror hat die Cidade de Deus erreicht”, schrieb ein Bewohner auf Facebook. “Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause kommen soll.”

Attacken auf Polizisten

Am Sonntag sind bei mehreren Attacken in verschiedenen Favelas von Rio de Janeiro erneut Polizisten angeschossen worden – einer starb, sechs Polizisten wurden verletzt.

Die Angriffe ereigneten sich in den Favelas Morro dos Macacos in Vila Isabel, auf der Ilha do Governador, in Vila Cruzeiro und in Irajá. In den meisten Fällen waren die Verletzungen Folge von Schießereien zwischen Polizei und Gangs – es passiert oft, dass Gangs und Polizei bei Patrouillen in den Favelas aufeinanderstoßen.

Ungewöhnlicher ist der Anschlag auf zwei Polizisten der UPP Mangueira, die sich nach Dienstschluss auf dem Heimweg befanden: Sie wurden gezielt von zwei Männern, die auf einem Motorrad unterwegs waren, angeschossen. Einer der Polizisten starb, einer wurde schwer verletzt.

Allein im Jahr 2014 sind in Rio de Janeiro bisher 74 Polizisten getötet worden.

Aufstand im Gefängnis

Bei einer blutigen Revolte in einem Gefängnis im brasilianischen Bundesstaat Paraná sind Sonntagnacht mindestens vier Menschen getötet worden – zwei Menschen wurden geköpft, zwei vom Dach der Haftanstalt in Cascavel gestoßen. Dutzende wurden verletzt.

Bei der morgendlichen Essensausgabe war es Häftlingen gelungen, Wärter zu überwältigen – zwei Wärter wurden als Geiseln genommen, die Situation geriet völlig außer Kontrolle. Mehr als 1000 Insassen sollen an dem Aufstand beteiligt gewesen sein. Die Häftlinge sollen für bessere Haftbedingungen protestiert haben – sie verbrannten Decken, stiegen auf das Gefängnisdach und schrien Parolen wie: “Menschenwürde”.

Brasiliens Gefängnisse haben einen schlechten Ruf: Viele sind überfüllt, sie werden von organisierten Banden kontrolliert, immer wieder finden Aufstände und Massaker statt – durch Sicherheitskräfte oder bei Kriegen zwischen verfeindeten Banden.

Bei dem Aufstand am Sonntag hielten Häftlinge Transparente mit der Aufschrift “PCC” in die Luft – vermutlich wurde der Aufstand von der kriminellen Organisation Primeiro Comando da Capital (PCC) organisiert. Die Organisation hat bereits in der Vergangenheit in Gefängnissen Aufstände organisiert – um für ihre Mitglieder bessere Haftbedingungen durchzusetzen, dem Staat etwa als Vergeltungsschlag für die Festnahme von PCC-Mitgliedern eine Machtdemonstration zu liefern oder um im Chaos Rivalen oder in Ungnade gefallene Mitglieder zu töten.

UPP in der Krise: Kampf um die Favelas

Die UPP-Einheiten sollten den Favelas den Frieden bringen, doch kurz vor der WM zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Besetzungsstrategie vor allem in den größeren Communities wie Complexo do Alemão, Penha und in der Rocinha alles andere als erfolgreich verläuft.

Die Besetzungsstrategie sieht eigentlich vor, dass Favelas zuerst militärisch eingenommen werden, in einem zweiten Schritt sollen sogenannte UPP-Polizisten dauerhaft in den Favelas stationiert werden, die eigentlich leichter bewaffnet und bevölkerungsnah auftreten sollen. Doch am vergangenen Samstag mussten die BOPE-Spezialeinheiten die Favelasiedlungen Complexo do Alemão und Complexo da Penha erneut militärisch besetzen, jetzt sollen dort bis zu 300 BOPE Präsenz zeigen.

Ende 2010 hatten Militärs und Polizisten den Complexo do Alemão gestürmt, mehrere Menschen starben damals bei den Schusswechseln zwischen Drogengang und staatlichen Sicherheitskräften. In den vergangenen Monaten hatten sich Auseinandersetzungen zwischen Drogengangs und UPP zugespitzt. In vielen von der UPP besetzten Favelas treten die Gangs pünktlich vor der WM wieder selbstbewusst in Erscheinung, wollen ihr Terrain zurückerobern, in mehreren Favelas haben sie bereits No-Go-Zonen etabliert, die von der Polizei nicht mehr betreten werden. Im vergangenen Monat sind vier UPP-Polizisten von Drogengangs ermordet worden.

Außerdem ist das Ansehen der Polizei bei der Favelabevölkerung durch Folterskandale wie in der Rocinha und hartes Vorgehen gegen Demonstrierende geschwächt. Im Complexo do Alemão war es in der vergangenen Woche zu Protesten und Auseinandersetzungen zwischen Favelabewohnern und Polizei gekommen – nach der Ermordung eines UPP-Polizisten waren mehrere Verdächtige festgenommen worden, den Favelabewohnern zufolge auch Unschuldige.

Nun soll nationales Militär den Sicherheitskräften in Rio de Janeiro zur Hilfe kommen. Und die UPP hat ein hartes Vorgehen gehen die Drogengangs angekündigt.

Schocktruppe am Eingang der Rocinha (Foto: BuzzingCities)

Schocktruppe am Eingang der Rocinha (Foto: BuzzingCities)