Warum Brasiliens Favelas einen Rechtspopulisten wählen – und wie junge Brasilianer dagegen kämpfen

In Brasilien droht ein Rechtsruck bei den Präsidentschaftswahlen – und selbst arme, schwarze Brasilianer wollen Jair Bolsonaro ihre Stimme geben, der im Wahlkampf gegen Minderheiten hetzt. Warum? Unterwegs in den Favelas mit Anhängern und Gegnern.

Es war ein Aufkleber, der den Angreifer provozierte: “Ele não”, “Er nicht”, stand darauf. Als Gabi Coelho mit diesem Aufkleber durch eine Stadt im Südostens Brasiliens lief, riss ein Mann an ihrem Rucksack, schüttelte sie und beschimpfte sie als “linker Affe” und “schwarzer Affe”. Erst als ein Fremder einschritt, konnte sie sich befreien.

Mit diesem Aufkleber kämpft die Studentin Gabi Coelho, 20, gegen Jair Bolsonaro, der rechtspopulistische Präsidentschaftskandidat tritt am Sonntag in Brasilien zur Stichwahl an.

Unseren ganzen Beitrag lesen bei Spiegel Online/Bento.de.

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#GuerranoRio: 12-stündige Operation, Complexo do Alemão unter Dauerfeuer

Stundenlange Schusswechsel, gepanzerte Fahrzeuge, die durch die Favelas rollen: Im Complexo do Alemão, einem Favelakomplex im Norden von Rio de Janeiro, läuft seit heute Morgen eine Mega-Operation – und Anwohner beschweren sich über Polizeigewalt.

Um sechs Uhr morgen begann die Mega-Operation. Spezialeinheiten und Militärpolizei durchkämmten Favelas, durchsuchten Häuser, lieferten sich Schusswechsel mit der Drogengang des Alemão. Immer wieder dröhnten schwere Schusswechsel durch die Siedlungen.

GUERRA COM ARMAS PESADAS!!

A SITUAÇÃO NO COMPLEXO DO ALEMÃO É ASSUSTADORA.

OLHA A RAJADA DOS TIROS DADOS COM ARMAS DE GUERRA DURANTE MAIS DE 12H DE OPERAÇÃO NO COMPLEXO DO ALEMÃO#GUERRANORIO #GUERRANOALEMAO pic.twitter.com/HdUtOFa2KB

 

“Wie kann es ein, dass die Polizeioperation sich immer genau dann intensiviert, wenn auch die Bewegung der Favelabewohner am größten ist”, beschwert sich ein Favelabewohner am frühen Abend auf Twitter. Auf Twitter postete er auch Nachrichten von Favelabewohnern, die von Übergriffen erzählten: Ein Bewohner, dessen Haus von der Polizei durchsucht wurde, erzählt, er habe die Sicherheitskräfte freundlich nach dem Grund gefragt. Einer antwortete darauf: “Weil ich es will.”

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Gepanzerte Fahrzeuge, die durch die Favela rollen (Foto: Raul Santiago)

Aufwachen im Krieg: Gepanzerte Fahrzeuge, die durch die Favela rollen (Foto: Raul Santiago)

Das Ergebnis der Mega-Operation, die Hunderte von Menschen in Angst und Schrecken versetzt hat, scheint bisher eher mau: Zwei Personen wurden bisher festgenommen. In der Favela Fazendinha haben Polizisten 19 Pakete mit Marihuana á jeweils etwa zwei Kilo festgenommen.

Wahltag in Rio, Gewalt in Rios Favelas

Auch in Rio de Janeiros Favelas mobilisieren junge Leute für Kandidaten oder unterstützen die Wahlen als Freiwillige. Doch von dem Glauben, dass auch auf die Armen im Land eine bessere Zukunft wartet, ist Post-Olympia nicht viel geblieben – und Schießereien und Polizeioperationen sind gerade in Rios großen Favelas wieder zum Alltag geworden.

Die Fotos von Bruno Itan, einem jungen Fotografen aus einer Favela im Complexo do Alemão in der Nordzone von Rio de Janeiro dokumentieren die Spuren von Schießereien. Auch am Wahltag waren frühmorgens im Complexo do Alemão wieder die Spezialeinheit BOPE und Militärs unterwegs.

Die Wahlurnen mussten mit Militärs und Polizei als Bodyguards in Rio de Janeiros Favelas eskortiert werden, um Urnenraub oder Blockaden zu gewährleisten. Die Stimmen der Favelabewohner haben Gewicht – denn Millionen von Menschen in Brasilien wohnen in Armensiedlungen, allein in Rio sind es 1,7 Millionen.

Zu seinen Fotos zitiert Bruno Itan einen Songtext der Band Legião Urbana:

“Nas favelas, no Senado, Sujeira pra todo lado. Ninguém respeita a Constituição. Mas todos acreditam no futuro da nação. Que país é esse?”

(In den Favelas, im Senat, überall Schweinereien. Keiner akzeptiert die Verfassung. Aber alle vertrauen auf die Zukunft der Nation. Was ist das für ein Land?”

Songtext Legião Urbana

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Die Neuvermessung der Stadt: Favelas auf der Karte

Mapa Riotur: Grüne Hügel statt Favelas (Screenshot)

Mapa Riotur: Grüne Hügel statt Favelas (Screenshot)

Auf Stadtkarten unterschlagen, von Google Maps gelöscht: Immer wieder werden die Favelas von Rio de Janeiro unsichtbar gemacht. Mit digitalen Karten und anderen kollaborativen Projekten verschaffen Favelabewohner den Armenvierteln online eine neue Präsenz.

Rio de Janeiro, weichgezeichnet für Touristen: Dort, wo eigentlich Hunderttausende Menschen leben, sind in der Stadtkarte von Riotur, der Tourismusbehörde, nur grüne Hügel zu sehen, mehrere Favelas sind einfach verschwunden. “Zwei Millionen von Menschen einfach ausgelöscht”, kritisiert Michele Silva, die in Rios größter Favela Rocinha lebt. “Die Karte repräsentiert Rio nicht.” Es ist nicht das erste Mal, dass Favelas in der Stadt mit den mehr als 1000 Favelas nicht auf offiziellen Karten auftauchen – was Silva als “Hygienepolitik” anprangert. Zusammen mit ihrem Bruder Michel und einem Team von Jugendlichen aus der Favela hat sie eine eigene Karte der Rocinha entwickelt, die auch mehr als 100 kulturelle Punkte enthält, die Mapa Cultural da Rocinha.

Mapa Cultural da Rocinha (Screenshot)

Mapa Cultural da Rocinha (Screenshot)

Da die offizielle Vermessung der Stadt Favelas bis heute oft ausschließt, erobern sich die Bewohner selbst die Sichtbarkeit zurück: „Stell dir vor, du lebst in einer Siedlung mit mehr als 20.000 Menschen, aber sie erscheint auf keiner Karte“, so die NGO AfroReggae. „Im Fall von Parada de Lucas war es lange genau so – mit Hilfe der Bewohner ändert sich das jetzt.” Die Favela Parada de Lucas liegt im ärmlichen Norden der Strandmetropole Rio de Janeiro, dort, wo sich zahlreiche Wohnviertel der unteren Mittelschicht erstrecken und Armenviertel aus Hunderttausenden Ziegelhäusern, wohin sich kaum ein Tourist oder wohlhabender Brasilianer verirrt.

Mit der Initiative „Tá no mapa“, „Es ist auf der Karte“ von AfroReggae haben junge Favelabewohner eine virtuelle Karte ihres Viertels erstellt, die auf Läden, Restaurants, Plätze, Kirchen oder Sehenswürdigkeiten aufmerksam macht. „Eine Karte ist mehr als eine Karte – sie ist auch ein Existenzbeweis“, so AfroReggae.

Im Internet verschaffen Favelabewohner ihren Vierteln mehr Sichtbarkeit, berichten in Blogs und sozialen Netzwerken über das Geschehen in den Favelas oder vermessen die Stadt mit kollaborativen Online-Karten wie „Tá no mapa“ neu, um auch die positiven Seiten der Armenviertel zu zeigen.

Wie Legosteine aufeinandergestapelte Ziegelhäuschen, Labyrinthe aus schmalen Gassen, Straßen ohne Namen, Territorien, in denen Drogenbanden mit Maschinengewehren patrouillieren, Städte in der Stadt: Jahrzehntelang waren die brasilianischen Favelas unzugängliche Siedlungen, in denen eigene Gesetze herrschen.  Synonyme für Armut, Gewalt und Kriminalität – manche Favelas nur ein paar Schritte von den Vierteln der Wohlhabenden entfernt, viele so abgelegen, dass sich ihre Existenz verdrängen lässt. Als Schandflecken wurden die Siedlungen, in denen mehr als ein Viertel der Bewohner Rios lebt, von den offiziellen Stadtkarten verbannt, sogar von Google Maps.

VON GOOGLE MAPS GELÖSCHT

Als Google die Armenviertel im Internet anzeigte, war das für viele Brasilianer ein Schock: Auf der virtuellen Karte von Rio de Janeiro poppten überall Favelas auf, sie lenkten optisch von den etablierten Stadtvierteln und Sehenswürdigkeiten wie der Christusstatue oder dem Zuckerhut ab. Seit 2009 betrieben der Bürgermeister von Rio, Eduardo Paes, und die städtische Tourismusagentur Riotur deshalb Lobbyarbeit – und setzten tatsächlich durch, dass der Begriff „Favela“ in Rio größtenteils von Google Maps gelöscht wird.

Die meisten Favelas werden nur noch mit ihrem Namen angezeigt, oder mit dem Begriff „Morro“ davor, Hügel – ein brasilianisches Synonym für Favela, das aber kaum ein Ausländer versteht. Und viele sind nur Farbkleckse auf Google Maps, weil online höchstens Hauptstraßen angezeigt werden. Die kleineren Straßen und Gassen, die in Favelas vorherrschen, bleiben unsichtbar.

In einem Google-Forum beschwert sich ein Nutzer namens  “Boctok” darüber, dass die Armenviertel in anderen brasilianischen Städten wie Recife, Fortaleza, Maceió oder João Pessoa immer noch explizit gekennzeichnet werden. Er wünscht sich, dass die Armenviertel von der Karte verschwinden – wie in Rio de Janeiro.

„Die virtuelle Löschung ist Teil des städtischen Projekts, das Armut und die Armen verstecken soll – sowohl virtuell als auch real, wie mit Zwangsumsiedelungen”, kritisiert dagegen das Comite Popular von Rio, eine Vereinigung von NGOs und Sozialaktivisten.

MIT DEM MOBILTELEFON DIE FAVELA KARTIEREN

Auch die 23-jährige Suellen Casticini aus der Favela Morro Agudo findet, dass es ein Grundrecht ist, auf einer Karte verzeichnet zu sein. Sie hat 2013 bei der Initiative „Wikimapa“ gearbeitet – und mit dem Mobiltelefon Orte in der Favela fotografiert und auf eine virtuelle Karte  hochgeladen. In den Medien werde höchstens von Kriminalität in den an die Favela Morro Agudo angrenzenden Vierteln berichtet, sagt sie. Niemand wisse, dass es in der Favela auch Schönes gebe, wie Wasserfälle oder Feste.

Die Wikimapa-Karten verschaffen einen Überblick über Sehenswürdigkeiten, Kirchen, Krankenhäuser, Schulen, Sportzentren, Organisationen, Restaurants, Bars, Bushaltestellen, Läden und Straßen in Favelasiedlungen wie Complexo da Maré, Cidade de Deus, Santa Marta, Pavão Pavãozinho und Complexo do Alemão in Rio – und ständig fügen die Reporter neue Favelas hinzu.

Hinter dem Projekt „Wikimapa“ steht die NGO Rede Jovem, die seit dem Jahr 2000 versucht, den Wandel der Favelas mit Internet und Mobiltechnologie voranzutreiben. 16 feste Wikireporter und Freiwillige haben inzwischen an der virtuellen Verortung der Favelas mitgearbeitet.

VIRTUELLE KARTEN

Die Wikireporter sind zwischen 16 und 25 Jahre alt, internetaffine Jugendliche und junge Erwachsene, die in einer Favela leben und sich dort gut auskennen. Nach einem dreitägigen Workshop lernen sie mit dem Handy Fotos aufzunehmen und Videos zu produzieren, mit der Wikimapa-Webseite und der App umzugehen, mit der sie Fotos und Informationen verorten.

Die virtuellen Karten sollen nicht nur den Blick von außen verändern, sondern wirken auch nach innen: Die Favelabewohner entdecken vieles, was sie selbst noch nicht kannten – und manche Geschäftsinhaber hoffen, dass der Eintrag kostenlose Werbung für sie ist.

„Ich glaube, dass solche Initiativen helfen, Vorurteile zu brechen“, so Wikireporterin Casticini. Mit der Internetpräsenz allein werden sich die Favelas zwar nicht in normale Stadtviertel mit ausreichender Infrastruktur verwandeln. Aber die virtuelle Sichtbarkeit kann dazu beitragen, dass auch abgelegene Favelas wie Morro Agudo oder Parada de Lucas als Teil von Rio de Janeiro wahrgenommen werden, stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken.

 

Eine Fassung des Beitrags erschien bei VOCER, die Version wurde um ein Update erweitert

“Krieg in Rio”

Eine Lokalzeitung aus Rio hat jetzt ein Ressort, dass sich “Krieg in Rio” nennt. Die ausufernde Gewalt in der Stadt soll die Leser sensibilisieren – doch die Meinungen sind geteilt.

Bildschirmfoto 2017-08-23 um 23.41.31Ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro schaut die Stadt auf einen Scherbenhaufen. Die Gewalt ufert aus, Korruptionsskandale reihen sich aneinander, die Polizei kämpft um ihr Gehalt und in den Favelas ist der brutale Kampf der Polizei gegen die Drogenbanden erneut entbrannt, wie vor den Großereignissen. Täglich gibt es Auseinandersetzungen, nicht nur Bewohner sterben im Kreuzfeuer, auch die Zahl der getöteten Polizisten steigt: 91 waren es allein in diesem Jahr.

Die Boulevardzeitung “Extra” hat den katastrophalen Zustand der Stadt als Anlass genommen, die neue Kategorie “Krieg in Rio” in ihrem Polizeiressort einzuführen. “Ein Kind, dass in der Schule erschossen wird” oder “ein Fötus, der im Mutterbauch angeschossen wird, ist nicht einfach nur ein Fall für die Polizei, es ist ein Symptom dafür, dass etwas Gravierendes in der Gesellschaft passiert”, schreibt die Redaktion. Deswegen würden sie nun von Krieg reden, ein Wort, das sie bisher vermieden hätten. Es sei ihre Art, Anklage zu erheben, denn: “Das ist nicht normal”. Die extreme Gewalt, die “Barbarie”, die in Rio alltäglich stattfindet, gehe weit über gewöhnliche Mordfälle und Verbrechen hinaus.

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In den sozialen Netzwerken sind die Leser geteilter Meinung: Nicht Kriegsreporter brauche es, sondern mehr Bürgerreporter, kritisiert der Favelareporter Michel Silva auf Facebook und erhält dafür viel Zustimmung.

Einer der ersten Beiträge des neuen Ressorts zeigt auf, wie stark die Macht der Organisierten Kriminalität in Rio ist. Einem als geheim eingestuften Dokument des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit zufolge, zu dem “Extra” Zugang hatte, werden 843 Gebiete in Rio von kriminellen Banden, statt von Staat und Polizei beherrscht. Darunter fallen nicht nur Favelas, sondern auch Wohnblöcke oder andere Gebäude außerhalb von den historisch von Gangs kontrollierten Favelas.

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Die zehn Gebiete mit der meisten Gewalt umfassen zusammengerechnet eine Fläche von 23 Quadratkilometern. Das Ranking der meisten Todesopfer führt die ohnehin berüchtigte Cidade de Deus an, die wir auch während der Olympischen Spiele besucht hatten (siehe Video unten). 70 Menschen starben dort allein 2016, obwohl das Gebiet seit 2009 von der Befriedungspolizei UPP besetzt ist.

Traumatisierte Stadt

Schießereien, Überfälle, Gewalt: Eine halbe Million Menschen leidet im Bundesstaat Rio de Janeiro an PTSD – die meisten Traumata bleiben unbehandelt.

Razzien, Schießereien zwischen Polizei und Gangs, Machtmissbrauch und Einschüchterung: In den Favelas von Rio de Janeiro zählt brutale Gewalt zum Alltag. Schießereien sind in manchen Siedlungen fast alltäglich, immer wieder treffen Querschläger auch Unbeteiligte – wie vor kurzem ein Baby im Mutterbauch. Die Schule fällt aus, weil die Sicherheit der Schüler während heftiger Schusswechel zwischen Polizei und Drogengangs nicht garantiert werden kann, sich die Kontrahenten mitunter sogar in Schulen oder in der Nähe von Schulen verschanzen.

Die vernachlässigten, ärmeren Teile sind extrem von der Gewalt betroffen – doch sicher sind auch die wohlhabenderen Stadtviertel nicht. Selbst in touristischeren Vierteln finden bewaffnete Raubüberfälle mit Messern oder Pistolen statt, Banden klauen Fahrräder und Autos, Kriminelle inszenieren sich bei Fake-Kontrollen als Polizisten. Im April 2017 stiegen die registrierten Überfälle in Rio de Janeiro dem Instituto de Segurança Pública (ISP) zufolge auf 12.089 Fälle an – ein Rekordhoch seit dem Jahr 2002.

Einer neuen Studie des Instituts für Psychatrie der UFRJ zufolge leiden im Bundesstaat von Rio de Janeiro mit seinen 16 Millionen Einwohnern mehr als eine halbe Million Menschen, 550.000, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD). In der Bundeshauptstadt Rio sind es etwa 214.000 Betroffene. 97,6 Prozent von ihnen wurden aber nicht durch Ärzte diagnostiziert – die Belastungsstörung bleibt meistens unerkannt, sie bleiben auf sich allein gestellt oder fallen aufgrund komorbider Krankheiten wie Depression oder Drogen- und Alkoholmissbrauch auf.

Gerade in den Favelas ist der Zugang zu Ärzten und Gesundheitsversorgung ohnehin schlecht, während die möglichen Folgen von Gewalt, wie gebrochene Bildungskarrieren und ein höheres Armutsrisiko sich ungleich extremer auswirken, weil sie nicht abgefedert werden. Psychologische Unterstützung erhalten die wenigsten Favelabewohner, obwohl oft schon Kinder drastischen Szenen ausgesetzt sind. Die gesellschaftlichen Kosten der Gewalt sind immens hoch – und wirken sich auf ganze Familien aus.

Baby im Mutterbauch angeschossen

Opfer noch vor der Geburt: In der Favela do Lixão Duque de Caxias wurde ein Baby im Mutterbauch von Kugeln getroffen. 

Die im neunten Monat schwangere Claudinéia dos Santos Melo war auf dem Weg zum Markt, als sie angeschossen wurde. Polizisten brachten sie ins Krankenhaus, das Baby wurde per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht. Dabei stellten die Ärzte fest, dass zwei Kugeln die Plazenta durchschlagen und auch das ungeborene Kind verletzt hatten.

Die Lungen wurden von den Schüssen verletzt, das Kind erlitt auch Läsionen an Brustwirbeln und eine Lähmung der unteren Gliedmaßen, vermutlich wird es aber wieder die Beine bewegen und laufen können. Die Ärzte bezeichneten es als “Wunder”, dass das Kind gerettet werden konnte. Zustand von Mutter und Kind sind ernst, beide befinden sich noch im Krankenhaus, das Baby wird künstlich beatmet und ernährt.

Es ist ein Extremfall der alltäglichen Gewalt. Immer wieder werden Kinder zu Opfern im Drogenkrieg. Die 10-jährige Vanessa Vitória dos Santos wurde vor kurzem in Lins de Vasconcelo in der Nordzone von Rio mit einem Kopfschuss getötet.

Schusswechsel stören auch immer wieder den Unterricht. Erst vor kurzem fiel der Unterricht für 1500 Kinder in Rio aufgrund von Schießereien aus. Der Schulweg wird zum tödlichen Risiko, der gewaltbedingte Unterrichtsausfall beeinflusst langfristig die Leistungen der Kinder aus Favelas. Viele erleiden Traumata, die in den seltensten Fällen behandelt werden.

Nachtrag vom 30.Juli 2017:
Nach einer drastischen Verschlechterung des Gesundheitszustands ist das Baby in einem Krankenhaus in Rio am 30. Juli verstorben.

 

Raus aus der Favela

In keinem Land der Welt gibt es so viele Hausmädchen wie in Brasilien – seit Kolonialzeiten schuften Arme in den Häusern der Reichen. Doch jetzt durchbricht eine neue Generation aus den Favelas den Kreislauf.

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Unten rasen Motorradtaxis auf der steilen Straße entlang, vor der Terrasse wachsen die Ziegelhütten von Rio de Janeiros größter Favela Rocinha den Berg hinauf. Michel Silva tippt konzentriert in sein Macbook. Seine Mutter blickt ihm dabei über die Schulter, einen Computer hat sie noch nie benutzt: “Ich gehe lieber in die Kirche”, sagt Dona Jô.

Die 63-Jährige kann kaum schreiben und lesen, ist nur ein paar Jahre zur Schule gegangen. Sie hat ihr Leben lang für wenig Geld geschuftet. Für Favelabewohner gab es bisher kaum Aufstiegschancen – doch ihre Kinder haben andere Pläne.

Die Geschichte von Dona Jô und ihren drei Kindern ist auch die Geschichte eines krisengeschüttelten Landes im Umbruch, in dem immer mehr Favelakinder nicht mehr als billige Arbeitskräfte für die Wohlhabenden arbeiten wollen – und stattdessen von Universität und Karriere träumen. Sie nehmen die tiefe Spaltung des Landes in Arm und Reich nicht mehr einfach hin.

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