Fußball, Proteste, Schießereien, Wahlen: Beste, schönste und schwierigste Momente aus den Favelas von Rio de Janeiro im Jahr der Fußball-WM.
Der beste Moment
Fast hätten wir das WM-Finale verpasst. Rund um das Maracanã-Stadion war die ganze Stadt gesperrt und wir steckten stundenlang im Verkehr fest, und konnten das Jubeln und Gröhlen im Stadion nur im Radio verfolgen. Irgendwie haben wir es doch noch in die Favela Mangueira geschafft, und mit den Favelabewohnern gefeiert – mit Blick von oben auf das Maracanã-Stadion.
Der Tiefpunkt
Ein loses Rohr, zuviel zu Tragen, ein falscher Tritt, und schon kann alles vorbei sein. Julia ist in Brasilien gestürzt und musste sich dann erstmal zwei Monate im Rollstuhl fortbewegen. Trotzdem irgendwie positiv: Der Perspektivenwechsel, durch den wir verdammt viel lernen konnten – auch wie weit es noch bis zur Barrierefreiheit ist.
Most scary moment
Marode Stromleitungen als explosive Mischung: Auf einmal brannten die Stromknäuel auf der Straße, die zu unserer Wohnung hinaufführt, und brachen auf die Straße hinunter. Auch Mülltonnen schmolzen im Feuer – und niemand wusste, wie weit sich das Feuer über die Leitungen ausbreiten würde.
Wenn es in der Favela brennt, muss die Feuerwehr sich aber erst durch den Stau auf der Hauptstraße schlängeln – immerhin wurde dann der Kabelsalat an der Brandstelle Stunden später von Elektrikern notdürftig zusammengeflickt. Verletzt wurde niemand, nur ein WM-Spiel verpassten die Bewohner von Laboriaux oben auf dem Berg bei dem Stromausfall.
Der stressigste Moment
Noch nie war eine Wahl selbst bis kurz vor Ende so knapp wie in diesem Herbst bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen. Erst stürzte der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat mit dem Flugzeug ab und kam ums Leben, die hochgejubelte Kandidatin Marina Silva, der einige Medien sogar Erfolgschancen auf das Amt vorausgesagt hatten, schied schon bei den Vorwahlen aus. Und das folgende überraschende Duell zwischen Dilma Rousseff und Aecio Neves spaltete das ganze Land, begleitet von Schlammschlachten und extremen Populismus und Gerüchten auf allen Seiten – und blieb bis zum Schluss nervenaufreibend unentschieden.
Persönlichkeit des Jahres
Das Jahr der Fußball-WM war auch ein erfolgreiches Jahr für Suélen – sie hat einen Jiu-Jitsu-Pokal nach dem anderen abgeräumt. Als die Befriedungspolizei UPP vor der Fußball-WM die Favelas besetzte, begann sie im Sportprogramm der Polizei zu trainieren, gerade sie, die aus einer Familie kommt, für die die Polizei früher der Feind war. Inzwischen trainiert sie selbst jüngere Kinder – und kann sich vorstellen, Profisportlerin zu werden. Rock on!
Soundtrack des Jahres
Mit seinem Knast-Tattoo, einer Träne am Auge, und Videoclips, in denen er Yachten, schnelle Autos und BlingBling feiert, ist MC Guimê nicht gerade das ideale Vorbild für die Favelajugend und umstrittener Protagonist des Funk Ostentação. Mit seinem sanften Hit “País do Futebol” (Land des Fußballs), in dem es auch um die Bedeutung von Fußball in der Favela geht, hat er aber 2014 einen inoffiziellen WM-Sound geliefert, der innerhalb von 24 Stunden mehr als eine Million Mal auf Youtube geklickt wurde und zu den zehn meistverkauften iTunes-Hits in Brasilien aufstieg.
Das beste Foto
Sie konnten es nicht lassen: In Brasilien haben Tausende Wähler beim diesjährigen Wahlmarathon ihre Entscheidung auch fotografisch dokumentiert: mit Selfies von der (in Brasilien elektronischen) Wahlurne. Das ist illegal – aber hat zu viel Wahlbegeisterung in den sozialen Netzwerken geführt und politische Debatten angeregt.
Film des Jahres
Kirchliche Hetze gegen Homosexualität, brasilianisches Machotum: In Brasilien LGBT zu sein und sich dazu bekennen, kann schwierig, immer wieder auch lebensgefährlich sein – in Favelas wie an anderen Orten auch. Der Dokumentarfilm “Favela Gay” begleitet elf queere Favelabewohner. Den Filmemacher Rodrigo Felha haben wir kennengelernt – bei der Party auf einem Wagen der riesigen Gay-Parade des Complexo do Alemao.
Bestes Projekt
Die Bretter, die die Welt bedeuten: Skateboards, lange Accessoires der wohlhabenderen urbanen Elite, haben inzwischen auch die Favelas von Rio eingenommen. Schon die Kleinsten skaten mit waghalsigen Stunt alles, was am entferntesten an ein Skateboard erinnert. Im Complexo da Maré skaten Favelabewohner zusammen in der Gruppe „Maré Longboard“ und veranstalten Wettbewerbe in der Favela. Zusammen erobern sie auch die Stadt – und versuchen sich mit den Hipstern vom „Asfalto“ in den Skateparks von Rio an neuen Tricks. Oder skaten wie alle anderen Stadtbewohner sonntags an der Strandpromenade von Ipanema entlang.
Das schlafloseste Wochenende
Keine Zeit, den Jetlag wegzuschlafen: Rio, Brasilia, Paris, Berlin, mit dem Zug nach Hamburg und kaum aus dem Zug gestiegen, begann der Dreh mit dem ARD-Nachtmagazin. Dann ein Wochenende voller Talks und Diskussionen bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche – wir haben über die Digitalisierung der Favelas gesprochen und wie Gangs und Kartelle soziale Netzwerke nutzen. Zurück nach Rio, zur Fußball-WM.
Social Media-Kampagne des Jahres
Hilfeschrei aus der Favela: Kurz nach der WM explodierte die Gewalt im Complexo do Alemao erneut – Drogengangs und Polizei bekämpften sich wieder offensiv, zahlreiche Menschen starben im Kreuzfeuer. Mit einer Social Media-Kampagne haben die Bewohner des Complexo darauf aufmerksam gemacht, was passiert.
Beste Idee
Bücher sind in den Favelas von Rio seltener als Mobiltelefone. Inzwischen gibt es mit der neuen Bibliothek in der Rocinha endlich einen Raum für Bücher und ein bisschen Ruhe, um sie zu lesen – und ganz oben bei uns auf dem Berg steht seit neuestem eine Straßen-Bibliothek. Wir wollten schon länger eine Give-Box in der Favela einrichten, jetzt wurde zumindest eine Buch-Box in Laboriaux etabliert. Bücher bringen, leihen, tauschen, im Vorbeigehen.