Der Mordfall an der PSOL-Abgeordneten Marielle Franco enthüllt kriminelle Machenschaften innerhalb des Polizei-Apparats – und schmutzige Verbindungen zwischen Milizen und Politikern.
Ein Modell der MP5 von Heckler & Koch (Screenshot: H&K)
Es war eine deutsche Waffe, mit der Marielle Franco, Abgeordnete der sozialistischen Partei PSOL, am 14. März 2018 in Rio de Janeiro erschossen wurde: eine MP-5 der deutschen Rüstungsschmiede Heckler & Koch, die in Brasilien von den Spezialtruppen der Militärpolizei Bope und Batalhão de Choque, von Militärs sowie Polícia Civil und Polícia Federal eingesetzt werden. Vermutlich ist der Mörder ein Schütze, der von der Militärpolizei ausgebildet wurde. Waffen aus dem Arsenal der Sicherheitskräfte werden derzeit ballistisch untersucht. Aus Polizei-Beständen waren in den vergangenen Jahren auch mehrere MP-5 verschwunden.
In Brasilien folgte auf den Mord an Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes, der das Land erschütterte, eine Serie von Skandalen: Bei den Ermittlungen wurde geschlampt, die Polizisten, die die Leichen untersuchten, fertigten nicht einmal ein Röntgenbild an. Das Attentat war professionell vorbereitet worden: Fünf Überwachungskameras, die von der Stadt betrieben werden, auf dem Weg zum Tatort waren manipuliert worden. Und viele Spuren deuten darauf hin, dass Politiker und Milizen Drahtzieher des Attentates sind. Ein Zeuge beschuldigt, dass ein anderer Abgeordneter und ein Ex-Polizist und Chef einer Miliz den Mord angeordnet haben. Sie sollen zwei Militärpolizisten beauftragt haben, Marielle Franco aus dem Weg zu räumen.
Franco, die selbst aus einer Favela des Complexo da Maré in Rio stammt, hat immer wieder Menschenrechtsverbrechen und Morde in Rios Favelas angeprangert, die durch Sicherheitskräfte und Milizen begangen werden. Sie hatte aber auch Verflechtungen zwischen Politikern und Milizen publik gemacht. Milizen, kriminelle Banden, die aus aktiven oder ehemaligen Sicherheitskräften bestehen, erpressen Schutzgelder, gehen kriminellen Geschäften wie Drogenhandel nach, begehen Morde und unterwandern zunehmend die brasilianische Politik.
Während sich Reporter des brasilianischen Medienkonzerns O Globo lange nur mit Schusswesten in die Favelas getraut haben und aus der Vogelperspektive über das Geschehen berichteten, engagiert der Konzern zunehmend junge Kolumnisten, Reporter und Fotografen, die selbst aus den Favelas stammen.
Eine clevere Strategie: Denn damit erschließt sich der Medienkonzern einerseits einen Zugang zu Gesprächspartnern und Themen, der den eigenen Reportern verwehrt bleiben würde, und sichert sich Sympathien bei Favelabewohnern, potentiell ein Millionenpublikum. Gleichzeitig kauft sich der Konzern mit den junge Multiplikatoren aus den Favelas auch die als Mitarbeiter ein, die sonst zu den größten Kritikern des umstrittenen Medienunternehmens zählen würden. Denn der Riesenkonzern ist in den Favelas zwar bekannt, wird aber als Repräsentant des Establishments betrachtet.
Ana Paula ist eine der jungen Favela-Stimmen, die im Wechsel mit einer Schauspielerin ab sofort einmal wöchentlich eine Kolumne für O Globo schreiben wird. Sie wohnt im Complexo da Maré, arbeitet bei der Agência de Redes para Juventude, einem Inkubator für Projekte von Jugendlichen aus Favelas, studiert Literatur und ist Aktivistin, Schriftstellerin und Poetin.
Als Favelabewohnerin, als schwarze Brasilianerin und als Frau sorgt sie damit für mehr Vielfalt bei O Globo. In ihrer Kolumne will sie aber nicht darüber schreiben — sondern einfach ihre eigene Perspektive auf gesellschaftliche Ereignisse in Brasilien, aber auch international einbringen.
Das Militär zieht sich aus den ersten Favelas des Complexo da Maré im Norden von Rio de Janeiro zurück. In den beiden Favelas Praia de Ramos und Roquette Pinto des Maré sollen bald Polizisten statt Soldaten für die Präsenz des Staates sorgen. Der Polizei zufolge handelt es sich bei den beiden Favelas um die ruhigsten Favelas des Maré.
“Das Maré ist eines der brutalsten Favelagebiete in Rio de Janeiro. Dorthin waren viele der Bandenmitglieder geflüchtet, deren Favelas in den vergangenen Jahren besetzt wurden. Das führte immer häufiger zu Konfrontationen mit Todesopfern, denn im Maré trafen die drei großen Gangs Rios aufeinander. Sie lieferten sich Gefechte um Terrain und den Zugang zur Stadt. Die Armensiedlung wurde von allen Banden als Waffenlager und Drogenumschlagplatz genutzt. Das Maré zählt zu den drei großen Herausforderungen für die brasilianischen Sicherheitskräfte – neben dem angrenzenden Complexo do Alemao und der Favela Rocinha im Süden Rio de Janeiros.”
Die Besetzung von Favelas durch den Staat erfolgt in zwei Schritten: Zuerst marschiert das Militär ein und bleibt so lange dort stationiert, bis die Situation einigermaßen ruhig ist. In einem zweiten Schritt löst die Befriedungspolizei UPP das Militär ab. Dass es im Maré ein ganzes Jahr gedauert hat, bis die Polizisten der UPP das Gebiet übernehmen, offenbart bereits die schwierige Lage.
Immer wieder ist es seit der militärischen Besetzung zu Zusammenstößen zwischen Gangs und Militär gekommen, auch mit Todesopfern bei der Bevölkerung. Etwa 3000 Soldaten wurden im Maré eingesetzt, das mindestens 140.000 Bewohner hat. Am vergangenen Mittwoch hat nun ihr phasenweiser Rückzug begonnen. Insgesamt vier UPP-Quartiere mit 1620 UPP-Beamten sollen in Zukunft das Maré kontrollieren.
Mit Propagandamaterial versucht das Militär nun schon die jüngsten Favela-Kids positiver auf die Sicherheitskräfte einzustimmen – und den Grundstein für spätere Rekrutierungen zu legen. Wie die Community-Zeitung O Cidadão des Complexo da Maré berichtet, verteilen die Soldaten auf den Straßen des Maré Comic-Magazine für Kinder, “Recrutinha”.
In den Magazinen, die den in Brasilien populären “Monica”-Comics ähneln, erzählen Geschichten von den Abenteuern des Militärs. Auch ein Papier-Panzer zum Spielen ist beigelegt, zwischendrin Rekrutenwerbung. “Horror”, kommentiert eine Bewohnerin.
Panzer zum Spielen (Foto: O Cidadão Comunicação Comunitaria)
Fußball, Proteste, Schießereien, Wahlen: Beste, schönste und schwierigste Momente aus den Favelas von Rio de Janeiro im Jahr der Fußball-WM.
Der beste Moment
Fast hätten wir das WM-Finale verpasst. Rund um das Maracanã-Stadion war die ganze Stadt gesperrt und wir steckten stundenlang im Verkehr fest, und konnten das Jubeln und Gröhlen im Stadion nur im Radio verfolgen. Irgendwie haben wir es doch noch in die Favela Mangueira geschafft, und mit den Favelabewohnern gefeiert – mit Blick von oben auf das Maracanã-Stadion.
WM-Finale: Feiern mit den Bewohnern der Favela Mangueira (Fotos: BuzzingCities)
Der Tiefpunkt
Ein loses Rohr, zuviel zu Tragen, ein falscher Tritt, und schon kann alles vorbei sein. Julia ist in Brasilien gestürzt und musste sich dann erstmal zwei Monate im Rollstuhl fortbewegen. Trotzdem irgendwie positiv: Der Perspektivenwechsel, durch den wir verdammt viel lernen konnten – auch wie weit es noch bis zur Barrierefreiheit ist.
Most scary moment
Marode Stromleitungen als explosive Mischung: Auf einmal brannten die Stromknäuel auf der Straße, die zu unserer Wohnung hinaufführt, und brachen auf die Straße hinunter. Auch Mülltonnen schmolzen im Feuer – und niemand wusste, wie weit sich das Feuer über die Leitungen ausbreiten würde.
Kabelbrand in der Rocinha: 1001 Gründe für Feuer in Favelas (Foto: BuzzingCities)
Wenn es in der Favela brennt, muss die Feuerwehr sich aber erst durch den Stau auf der Hauptstraße schlängeln – immerhin wurde dann der Kabelsalat an der Brandstelle Stunden später von Elektrikern notdürftig zusammengeflickt. Verletzt wurde niemand, nur ein WM-Spiel verpassten die Bewohner von Laboriaux oben auf dem Berg bei dem Stromausfall.
Der stressigste Moment
Noch nie war eine Wahl selbst bis kurz vor Ende so knapp wie in diesem Herbst bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen. Erst stürzte der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat mit dem Flugzeug ab und kam ums Leben, die hochgejubelte Kandidatin Marina Silva, der einige Medien sogar Erfolgschancen auf das Amt vorausgesagt hatten, schied schon bei den Vorwahlen aus. Und das folgende überraschende Duell zwischen Dilma Rousseff und Aecio Neves spaltete das ganze Land, begleitet von Schlammschlachten und extremen Populismus und Gerüchten auf allen Seiten – und blieb bis zum Schluss nervenaufreibend unentschieden.
Persönlichkeit des Jahres
Das Jahr der Fußball-WM war auch ein erfolgreiches Jahr für Suélen – sie hat einen Jiu-Jitsu-Pokal nach dem anderen abgeräumt. Als die Befriedungspolizei UPP vor der Fußball-WM die Favelas besetzte, begann sie im Sportprogramm der Polizei zu trainieren, gerade sie, die aus einer Familie kommt, für die die Polizei früher der Feind war. Inzwischen trainiert sie selbst jüngere Kinder – und kann sich vorstellen, Profisportlerin zu werden. Rock on!
Soundtrack des Jahres
Mit seinem Knast-Tattoo, einer Träne am Auge, und Videoclips, in denen er Yachten, schnelle Autos und BlingBling feiert, ist MC Guimê nicht gerade das ideale Vorbild für die Favelajugend und umstrittener Protagonist des Funk Ostentação. Mit seinem sanften Hit “País do Futebol” (Land des Fußballs), in dem es auch um die Bedeutung von Fußball in der Favela geht, hat er aber 2014 einen inoffiziellen WM-Sound geliefert, der innerhalb von 24 Stunden mehr als eine Million Mal auf Youtube geklickt wurde und zu den zehn meistverkauften iTunes-Hits in Brasilien aufstieg.
Das beste Foto
Sie konnten es nicht lassen: In Brasilien haben Tausende Wähler beim diesjährigen Wahlmarathon ihre Entscheidung auch fotografisch dokumentiert: mit Selfies von der (in Brasilien elektronischen) Wahlurne. Das ist illegal – aber hat zu viel Wahlbegeisterung in den sozialen Netzwerken geführt und politische Debatten angeregt.
Selfie bei der Wahl – eigentlich verboten
Film des Jahres
Kirchliche Hetze gegen Homosexualität, brasilianisches Machotum: In Brasilien LGBT zu sein und sich dazu bekennen, kann schwierig, immer wieder auch lebensgefährlich sein – in Favelas wie an anderen Orten auch. Der Dokumentarfilm “Favela Gay” begleitet elf queere Favelabewohner. Den Filmemacher Rodrigo Felha haben wir kennengelernt – bei der Party auf einem Wagen der riesigen Gay-Parade des Complexo do Alemao.
Auf der LGBT-Parade im Complexo do Alemao (Foto: Buzzingcities)
Bestes Projekt
Die Bretter, die die Welt bedeuten: Skateboards, lange Accessoires der wohlhabenderen urbanen Elite, haben inzwischen auch die Favelas von Rio eingenommen. Schon die Kleinsten skaten mit waghalsigen Stunt alles, was am entferntesten an ein Skateboard erinnert. Im Complexo da Maré skaten Favelabewohner zusammen in der Gruppe „Maré Longboard“ und veranstalten Wettbewerbe in der Favela. Zusammen erobern sie auch die Stadt – und versuchen sich mit den Hipstern vom „Asfalto“ in den Skateparks von Rio an neuen Tricks. Oder skaten wie alle anderen Stadtbewohner sonntags an der Strandpromenade von Ipanema entlang.
Hilfeschrei aus der Favela: Kurz nach der WM explodierte die Gewalt im Complexo do Alemao erneut – Drogengangs und Polizei bekämpften sich wieder offensiv, zahlreiche Menschen starben im Kreuzfeuer. Mit einer Social Media-Kampagne haben die Bewohner des Complexo darauf aufmerksam gemacht, was passiert.
Beste Idee
Bücher sind in den Favelas von Rio seltener als Mobiltelefone. Inzwischen gibt es mit der neuen Bibliothek in der Rocinha endlich einen Raum für Bücher und ein bisschen Ruhe, um sie zu lesen – und ganz oben bei uns auf dem Berg steht seit neuestem eine Straßen-Bibliothek. Wir wollten schon länger eine Give-Box in der Favela einrichten, jetzt wurde zumindest eine Buch-Box in Laboriaux etabliert. Bücher bringen, leihen, tauschen, im Vorbeigehen.
In Rio de Janeiro haben Kriminelle einen Stau als Gelegenheit genutzt, um leichte Beute zu machen. Sie kletterten dabei durch Löcher in den Schallschutzwänden, die die Favelas von der Schnellstraße trennt, die vom Flughafen in die Stadt führt.
Die Schallschutzwände wurden vermutlich auch gebaut, um die Sicht der Touristen auf die Favelas bei der Fahrt nach Rio einzuschränken – sie sind mit Kinderzeichnungen bemalt, allerdings mittlerweile an vielen Stellen durchgebrochen. Durch die zahlreichen Löcher können Favelabewohner leicht durchklettern, etwa Verkäufer, die am Straßenrand auf Kundschaft warten – oder in diesem Fall die Kriminellen.
Bewaffneter Raubüberfall auf der Schnellstraße
Auf der Höhe des Complexo da Maré raubte eine bewaffnete Gruppe mindestens vier Autofahrer aus, die morgens in einem Stau im Fließverkehr standen – wie im Selbstbedienungsladen. Als sie bei ihrem Raubzug Kreditkarten, Uhren und Handys einsammelten, flüchteten einige andere Fahrer aus Angst vor den bewaffneten Räubern einfach aus ihren Autos und liefen weg.
Auch am vergangenen Samstag war es bereits zu einem Überfall auf der Schnellstraße gekommen. In den sozialen Netzwerken wurde darüber diskutiert, dass sich einige Gangster auch als Verkäufer ausgeben würden – die an die Autos herantreten, um vorgeblich ihre Ware anzubieten und dann eine Waffe ziehen. Zahlreiche Favelabewohner versuchen sich über Wasser zu halten, indem sie stundenlang an den Straßenrändern in Rios Nordzone stehen, um Autofahrern Ladekabel, Getränke oder Essen zu verkaufen – für sie sind die Vorwürfe geschäftsschädigend. Aber auch für sie ist jeder Stau ein Glück.
Eine Auseinandersetzung zwischen den rivalisierenden Drogengangs Amigos dos Amigos und Terceiro Comando Puro hat Autofahrer und die Favelabewohner des Complexo da Maré im Norden von Rio in Angst und Schrecken versetzt.
Der Drogenkrieg löste auf der wichtigen Verkehrsader Avenida Brasil, die direkt an die Favelasiedlung grenzt, Chaos aus. Autos und Busse standen kreuz und quer auf der Straße, Menschen versuchten in Deckung zu gehen, um nicht ins Kreuzfeuer zu geraten.
Das Militär rollte mit Panzern auf die Straße, auch sie lieferten sich Schusswechsel mit den Gangs. Für etwa eine halbe Stunde legten die Soldaten den Verkehr lahm. Drogengangster versuchten auch auf das Gelände der Stiftung Fundação Oswaldo Cruz, kurz “Fiocruz”, zu gelangen – normalerweise eine grüne, ruhige Oase mit Forschungseinrichtungen und Museen, die direkt gegenüber des Eingangs des Complexo da Maré liegt. Ein bisher nicht identifizierter 18-Jähriger wurde nach dem Gefecht tot aufgefunden.