Drogenkrieg in Rio: Disput in der Mangueira

Mangueira: Gewalteskalation nach der WM (Foto: BuzzingCities)

Mangueira: Gewalteskalation nach der WM (Foto: BuzzingCities)

Nach dem Ende der WM hat die Gewalt in mehreren besetzten Favelas erneut zugenommen – durch Konflikte zwischen rivalisierenden Gangs und Zusammenstöße mit der Polizei. In der Favela Mangueira im Norden von Rio de Janeiro bekriegen sich drei Banden. Die Bewohner haben Angst, auf der Straße bei Schießereien verletzt zu werden.

Startschuss für den Drogenkrieg war die Ermordung eines Ex-Drogenchefs, Francisco Paulo Testas alias “Tuchinha”. Der 50-Jährige war Anfang September von Killern auf einem Motorrad exekutiert wurden, vermutlich war “Tuchinha” in einen Hinterhalt gelockt worden.

31 Jahre Haft, erst drei Jahre in Freiheit

Er war früher Drogenboss der Mangueira gewesen, einem wichtigen Drogenumschlagsplatz in Rio, in der Nähe des Maracanã. “Tuchinha” wurde verhaftet und verbrachte 21 Jahre im Gefängnis. Seit er vor drei Jahren entlassen wurde, kümmerte er sich um andere Ex-Dealer, die aus dem Drogenhandel aussteigen wollten und vermittelte bei Konflikten.

Er engagierte sich auch in der Anwohnervereinigung der Favela, die die Interessen der Anwohner vertreten soll, aber oftmals von den Drogengangs unterwandert ist. Unklar ist, ob “Tuchinha” selbst wieder im Drogenhandel tätig war. Anlass des Mordes könnten auch Streitigkeiten zwischen ihm und seinem Bruder sowie einem inhaftierten Drogengangster gewesen sein.

Massive Polizeipräsenz

Seit seinem Tod kommt es verstärkt zu Konflikten zwischen den Banden, aber auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Mangueira ist seit 2011 besetzt. Als wir mit den Bewohnern das WM-Finale angesehen haben, war die Polizeipräsenz massiv – unter anderem mit mehreren Straßensperren und -kontrollen innerhalb der Favela.

Polizeisperre in der Favela (Foto: BuzzingCities)

Polizeisperre in der Favela (Foto: BuzzingCities)

In der vergangenen Woche wurde bei einer Schießerei mit Drogengangstern ein Polizist erschossen, ein weiterer angeschossen. Bei einer Polizeioperation am Dienstag wurden in einem Haus in der Mangueira kartonweise Drogen wie Kokapaste oder Ecstasy, ein Sturmgewehr, Munition, Militäruniformen und eine Handgranate sichergestellt.

FINALEEEE #gerarg

Zapp. Und schon ist der Tag des Finales gekommen. Unser Video von der zweiten Brasilien-Niederlage gestern hängt noch in der Upload-Schleife, weil wir in unserem Favela-Haus gerade kein Internet haben und das Netz im Café auch besser sein könnte. Wir reisen jetzt los Richtung Maracanã. Live on Twitter: @buzzingcities

Tag des Anpfiffs (Foto: BuzzingCities)

Tag des Abpfiffs (Foto: BuzzingCities)

Neymar als Vorbild

Juliana: Neymar als Vorbild (Foto: BuzzingCities)

Juliana Leite, 14: Neymar als Vorbild (Foto: BuzzingCities)

Juliana Leites goldene Fußballschuhe sind von Neymar – zumindest entworfen hat er sie. An der Seite hat sie ihren Namen aufsticken lassen: „Juju Leite“. Auch sie will „Crack“ werden wie Neymar, Fußballstar – ein Traum, der in den Favelas von Rio meist noch Männersache ist.

Eben hat die 14-Jährige mit ihrem Fußballteam aus der Favela Rocinha den zweiten Platz abgeräumt, beim Turnier des Frauen-Fußball-Festivals „Discover Football“. Frauen gegen Frauen, aus vier Favelas. Das Spielfeld in der Favela Rocinha, in der auch Juliana wohnt, ist nur über Schleichwege zu erreichen, thront auf einer Anhöhe zwischen den eng aufeinandergestapelten Ziegelhütten der Favela. Den Siegerpokal nimmt das Team aus Cidade de Deus mit nach Hause. „Ein paar Spielerinnen haben rumgefoult und es war auch nicht so einfach auf dem Rasen zu spielen, weil er vom Regen noch so feucht war“, sagt Juliana. „Aber das Spiel war super.“

Als das Turnier ein bisschen länger dauert als geplant, die Mädchen noch ein paar Selfies auf dem Rasen knipsen und sich für Teamfotos aufstellen, fluchen die Männer auf den Bänken, regen sich auf – sie wollen selbst spielen. Für Mädchen und Frauen ist es immer noch schwierig, sich das Spielfeld zu erobern, sie kämpfen gegen viele Vorurteile und Barrieren. Die deutsche Intitiative „Discover Football“ unterstützt Mädchen und Frauen weltweit dabei, sich zu vernetzen, veranstaltet Expertinnenforen, Trainings und Turniere.

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Selfie nach dem Spiel - mit Pokal (Foto: BuzzingCities)

Selfie nach dem Spiel – mit Pokal (Foto: BuzzingCities)

Auch Juliana findet, dass es als Mädchen schwieriger sei, sich als Fußballerin durchzusetzen – unmöglich aber nicht. Sie spielt schon jetzt professionell Fußball in einem Jugendteam in Rio, fährt auch zu Auswärtsspielen. Und sie besucht eine Sportschule, pendelt jeden Tag mit dem Bus von der Rocinha nach Santa Theresa ins Zentrum der Stadt. Ihre Familie unterstützt sie, zusammen fiebern sie bei den WM-Spielen zuhause mit.

Die Leistung der brasilianischen Nationalmannschaft analysiert Juliana kühl: Sie sei nicht traurig gewesen, als die Brasilianer verloren haben – sie habe sowieso gewusst, dass Brasilien rausfliegt. „Die Brasilianer waren nicht auf das Spiel vorbereitet, haben kein gutes Team“, so Juliana. „Es ist ein Offensivteam – sie kümmern sich um die Attacken, aber sie achten nicht auf die Verteidigung, das ist das Problem.” Dass Brasilien 2014 das Land der WM ist, findet sie trotzdem “cool”.

 

Im Einkaufszentrum über “El Pibe” stolpern

Das Markenzeichen funktioniert immer noch: die gelblichen Afro-Haare, eine Art Topfschnitt, der die Haare wie eine Perücke aussehen lässt, Schnauzer. Wir erkennen “El Pibe”, den kolumbianischen Ex-Weltklassekicker Carlos Alberto Valderrama Palacio sofort. Er schlendert mit seiner Familie durch das Einkaufszentrum, in dem wir versuchen, unsere SIM-Karte freischalten zu lassen.

“El Pibe” erlebte den von Pablo Escobar gesponsorten Aufstieg – und Fall – der kolumbianischen Nationalmannschaft, als Kapitän war er bei der WM 1990, 1994 und 1998 für Kolumbien am Start. Pelé wählte ihn 2004 als einzigen Kolumbianer in die Liste der Top-Fußballer “FIFA 100”.

 

 

Ironie gegen das Trauerspiel

Am Anfang stimmten die brasilianischen Fans sich mit lauten Fanliedern auf das Spiel ein – dann nur noch Entsetzen, Enttäuschung, heulende Fans und Fassungslosigkeit, auf allen Seiten.

Die deutsch-brasilianische Begegnung war ein surreales Geschehen, es sah fast so aus, als hätte jemand den Bildschirm gehackt. Parallel zum Torgewitter liefen dazu auf Twitter noch Meldungen von Freunden aus Tel Aviv ein, die gerade beim WM-Public Viewing am Strand sitzen und gleichzeitig Raketen hören.

Brasilien, das Land des Fußballs, besiegt mit 7:1. Eine üble Niederlage. “Alemanazo” nennen die Brasilianer die Katastrophe ihrer Seleção jetzt – in Anlehnung an das letzte Fußballtrauma “Maracanaço” von 1950, als Brasilien bei der WM im Maracanã-Stadion in Rio unerwartet gegen Uruguay verlor.

Alemão, “Deutscher”, ist in den Favelas seit Jahrzehnten ein Slang-Ausdruck für “Feind” – mal sehen, ob der Ausdruck jetzt auch bei Fußball-Fans in Mode kommt. Ob wir uns als Deutsche in Rio de Janeiro überhaupt noch auf Straße trauen können, wollen viele wissen? Können wir.

Denn Brasilien nimmt die Niederlage relativ entspannt, Brasilianer kontern mit Witzen, die oft gegen ihre eigene Mannschaft und den Trainer zielen. Das deutsche Torgeballer ist längst zum kulturellen Meme geworden. Eine Freundin aus der Favela regt sich auf Facebook über ihre Internetverbindung auf: “Das Internet ist so langsam, dass jede Aktualisierung 15 Toren von Deutschland entspricht.”

Proteste und Gewaltausbrüche, die einige Fußball-Experten hervorgesagt hatten, blieben aus. Beim Fanfest an der Copacabana soll es zu einem Handgemenge gekommen sein, doch laut denen, die dabei waren, handelte es sich nur um einen kurzen Zwischenfall. Einige Brasilianer verließen das Fanfest noch während das Spiel lief – andere tanzten dagegen auch nach der Niederlage an der Copacabana herum, wie Augenzeugen berichten.

Das Spiel hinterlässt vielleicht enttäuschte Fans, aber kein Land in Trümmern, vielleicht auch, weil die WM in Brasilien schon vor Anpfiff irgendwie entzaubert war, die Euphorie nicht das ganze Land erfasst hat und selbst Fußballfans eine kritische Einstellung zum kostenintensiven und korrupten Mega-Spektakel hatten. Die Brasilianer sind längst aufgewacht. Noch drehen sich Gespräche in Bars und an den Bushaltestellen um Fußball, das verlorene Spiel – aber der Alltag geht weiter. In der Rocinha kämpfen die Favelabewohner gerade mit dem Regen, der Wege, Balkone, Häuser überschwemmt.

Manche drücken für das Finale am Sonntag sogar Deutschland die Daumen – weil Argentinien nicht gerade ihr Lieblingsland ist.