“Krieg in Rio”

Eine Lokalzeitung aus Rio hat jetzt ein Ressort, dass sich “Krieg in Rio” nennt. Die ausufernde Gewalt in der Stadt soll die Leser sensibilisieren – doch die Meinungen sind geteilt.

Bildschirmfoto 2017-08-23 um 23.41.31Ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro schaut die Stadt auf einen Scherbenhaufen. Die Gewalt ufert aus, Korruptionsskandale reihen sich aneinander, die Polizei kämpft um ihr Gehalt und in den Favelas ist der brutale Kampf der Polizei gegen die Drogenbanden erneut entbrannt, wie vor den Großereignissen. Täglich gibt es Auseinandersetzungen, nicht nur Bewohner sterben im Kreuzfeuer, auch die Zahl der getöteten Polizisten steigt: 91 waren es allein in diesem Jahr.

Die Boulevardzeitung “Extra” hat den katastrophalen Zustand der Stadt als Anlass genommen, die neue Kategorie “Krieg in Rio” in ihrem Polizeiressort einzuführen. “Ein Kind, dass in der Schule erschossen wird” oder “ein Fötus, der im Mutterbauch angeschossen wird, ist nicht einfach nur ein Fall für die Polizei, es ist ein Symptom dafür, dass etwas Gravierendes in der Gesellschaft passiert”, schreibt die Redaktion. Deswegen würden sie nun von Krieg reden, ein Wort, das sie bisher vermieden hätten. Es sei ihre Art, Anklage zu erheben, denn: “Das ist nicht normal”. Die extreme Gewalt, die “Barbarie”, die in Rio alltäglich stattfindet, gehe weit über gewöhnliche Mordfälle und Verbrechen hinaus.

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In den sozialen Netzwerken sind die Leser geteilter Meinung: Nicht Kriegsreporter brauche es, sondern mehr Bürgerreporter, kritisiert der Favelareporter Michel Silva auf Facebook und erhält dafür viel Zustimmung.

Einer der ersten Beiträge des neuen Ressorts zeigt auf, wie stark die Macht der Organisierten Kriminalität in Rio ist. Einem als geheim eingestuften Dokument des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit zufolge, zu dem “Extra” Zugang hatte, werden 843 Gebiete in Rio von kriminellen Banden, statt von Staat und Polizei beherrscht. Darunter fallen nicht nur Favelas, sondern auch Wohnblöcke oder andere Gebäude außerhalb von den historisch von Gangs kontrollierten Favelas.

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Die zehn Gebiete mit der meisten Gewalt umfassen zusammengerechnet eine Fläche von 23 Quadratkilometern. Das Ranking der meisten Todesopfer führt die ohnehin berüchtigte Cidade de Deus an, die wir auch während der Olympischen Spiele besucht hatten (siehe Video unten). 70 Menschen starben dort allein 2016, obwohl das Gebiet seit 2009 von der Befriedungspolizei UPP besetzt ist.

Machtmissbrauch in Rio: Polizisten schüchtern filmenden Passanten ein

Ein Passant filmt den Polizeieinsatz nach einem Banküberfall in Rio de Janeiro. Ein Polizist, der das Handy sieht, schüchtert den Filmenden mit einer dreisten Lüge ein.

“Kennst du nicht das neue Gesetz? Wir dürfen die Handys von Filmenden als Beweismaterial mitnehmen.”

Der Passant kontert daraufhin: “Dieses Gesetz gibt es nicht” und filmt weiter. Ein anderer Polizist kommt hinzu und bestärkt die Aussage seines Kollegen mit dem Ziel, den Filmenden einzuschüchtern und das Handy zu erhalten. Der zweite Polizist behauptet, die Polizei dürfe das Handy sechs Monate lang behalten. Doch der Augenzeuge lässt sich nicht irritieren und macht das Video später publik.

Gefilmter Polizist (Screenshot G1)

Gefilmter Polizist (Screenshot G1)

Die Vereinigung der Anwälte Brasiliens sagt, dass jedoch nur die Zivilpolizei (Anmerkung: die Polizei, die in Brasilien nach einem Vorfall die Untersuchungen übernimmt) entscheiden kann, was zu den Beweismitteln zählt und was nicht. Ein Militärpolizist hat nicht das Recht dazu, Menschen am Filmen von öffentlichen Bereichen zu hindern.

Beispiel Olympia 2016

Doch immer wieder versuchen Polizisten ohne rechtliche Grundlage Smartphones zu beschlagnahmen oder Filmende zu zwingen, Aufnahmen zu löschen.

Als wir im Sommer 2016 eine große Gruppe Polizisten mit dem Handy fotografieren, wie sie anstatt zu arbeiten, als gesamte Truppe eine Zeitlang in einer Fastfoodfiliale sitzt und an den Handys spielt, kommen erst zwei, dann immer mehr Polizisten auf uns zu und befehlen uns das Handy herauszugeben und die Bilder zu löschen.

Als wir uns darauf nicht einlassen wird der Ton härter, sie umkreisen uns, hindern uns am Gehen. Nachdem wir uns durch die Gruppe drängen, entkommen wir der Situation.

Immer wieder wurde die Polizei in Rio kritisiert, dass sie einen Großteil ihrer Zeit an ihren Handys “verspielen” würden, anstatt tatsächlich ihren Dienst zu erfüllen.

Rio 2016: Was bleibt

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Impeachment und Politskandale, Wirtschaftskrise, Olympische Spiele, Proteste, Drogenkrieg und digitale Black Power: Trends und Ereignisse, die Brasilien 2016 verändert haben – und wie es weitergeht.

#1 Die Spiele

Mit den Olympischen Spielen ist in Brasilien eine Ära zu Ende gegangen – die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung ist Vergangenheit. Immerhin: Viele Infrastrukturprojekte wie der Metro- und Straßenausbau, die Renovierung des Hafengeländes, aber auch Projekte in Rios Favelas wären ohne die Megaevents gar nicht realisiert worden, oder zumindest nicht so schnell (auch wenn viele Millionen an den falschen Stellen versickert sind).

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Die Spiele selbst waren trotz Terrorangst ein organisatorischer Erfolg, auch wenn wie immer viel improvisiert wurde. Bis zuletzt wurde an Stadien und Straßen gebaut, die zum Teil kurz vor den Spielen wieder eingestürzt sind, wie der Fahrradweg am Meer. Unsere Bilanz der Olympischen Spiele im Interview mit Das Filter.

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#2 Gold für die Favela

Die Goldmedaille für die Judo-Kämpferin Rafaela Silva – als schwarze, junge Frau aus einer Favela in dreifacher Hinsicht eine Ausnahme – aus der Cidade de Deus (City of God) hat immerhin sogar viele Favelabewohner kurzzeitig für die Spiele begeistert. Grundsätzlich hat die Kritik an den Megaevents und den versenkten öffentlichen Geldern aber dominiert.


#3 Die Rechnung 

Nach der Party: ein Trümmerhaufen. Denn die Stadt Rio de Janeiro ist pleite. Schon für die Durchführung der Spiele und Sicherheit musste der Bundeshaushalt zusätzliche Mittel bereitstellen. Auch unter der 2016 abgesetzten Ex-Präsidentin Dilma Rousseff wurde bereits radikal der Rotstift angesetzt, doch der neue Präsident Temer will das Land jetzt mit einem noch radikaleren Sparkurs sanieren. Die Haushaltssanierung geht dabei zu Lasten von zentralen Bereichen wie Gesundheit und Soziales – und trifft vor allem die, die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind. Angestellte des Öffentlichen Dienstes werden schon seit Oktober nicht mehr bezahlt.

Neue Bündnisse haben sich gebildet, die etwa gegen die eingefrorenen Gehälter, den Stellenabbau und die Kürzungen im Kulturbereich protestieren und neue Initiativen vorantreiben wollen. Julia hat etwa für den Deutschlandfunk über den Künstler-Protest berichtet. 


#4 Politisches Chaos

Ist Dilma Rousseffs Amtsenthebung ein Putsch? Ist Nachfolgepräsident Michel Temer ein legitimes Regierungsoberhaupt? Wer ist im brasilianischen Parlament nicht in ein Korruptionsverfahren verwickelt? Wird der umstrittene Richter Sergio Moro irgendwann fallen? House of Cards made in Brazil: Nichts war so dramatisch wie die politische Lage, nichts so intrigant und wendungsreich wie die politische Schlammschlacht zwischen Parteien und Politikern, aber auch Justiz. Fast täglich änderten sich in 2016 Vorsitzende von Ausschüssen, Parteien, politische Funktionen – und ebenso die Schuldzuweisungen für die katastrophale Lage im Land.

Nachdem Dilma Rousseff, die vermeintlich kriminelle Präsidentin, abgesetzt wurde, werden fast täglich neue Prozesse gegen Parlamentarier, Sprecher und sonstige Politiker eröffnet. Es war länger bekannt, dass die Baufirma Odebrecht in den Korruptionsskandal verwickelt ist – doch nach und nach werden die Ausmaße des Korruptionssumpfes öffentlich. “Würden die Verantwortlichen sprechen, könnte das ganze Land fallen”, kommentierte ein Odebrecht-Mitarbeiter das Ausmaß des landesweiten Korruptionsskandals, allerdings im Off-the-Record-Gespräch.

Inzwischen brachten seine Schwarzgeldkonten den Ex-Parlamentsvorsitzenden Eduardo Cunha zu Fall – der seinerseits das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff ins Rollen gebracht hatte. Im November 2016 wurden sogar Rio de Janeiros prominenter Ex-Gouverneur Sergio Cabral und dessen Frau verhaftet. Er soll mindestens 60 Millionen Euro Schmiergelder für die Vergabe von Bauprojekten für WM und Olympische Spiele kassiert haben.

#5 Drogenkrieg und Gewalt

Vor acht Jahren hat die UPP, Rios Befriedungspolizei, mit der Dona Marta in Botafogo die erste Favela besetzt, um die Stadt vor den Megaevents sicherer zu machen. Der Ansatz, Rios von Drogengangs beherrschte Armenviertel mit einer neuen Polizeistrategie und sozialen Maßnahmen in die Stadt zu integrieren, war sinnvoll – ist aber gescheitert. Strategische Fehler, Rio`s Policing-Historie, mangelnde Ressourcen, Korruption, aber auch das Sicherheitsrisiko durch neue Konflikte zwischen Drogengangs und Polizei haben die Gewalt zum Teil noch befördert. Auch der Drogenkrieg zwischen organisierten Banden und deren Territorialkämpfe haben die Stadt in den vergangenen Monaten erschüttert. Die Sicherheitslage und das Erbe der UPP in Rios Favelas haben wir in unserem Interview mit Jung & Naiv diskutiert – live aus der Favela Rocinha.


#6 Digitale Black Power

Mit Smartphones und digitalen Medien ist der Rassismus in Rio sichtbarer geworden. Die Polizei tötet vor allem junge, schwarze Männer aus den Favelas, die generalverdächtigt werden zu den Drogengangs zu gehören. Todesumstände werden oft nicht näher untersucht, die Polizisten gehen meistens straflos aus. Julia hat für die taz über die Morde berichtet – und darüber, wie digitale Initiativen gegen die Polizeigewalt kämpfen. 

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2017 wird das Jahr der digitalen Black Power-Bewegung: Mit Twitter, Facebookseiten, Plattformen, aber auch schwarzen Youtubestars werden POC-Stimmen, selbst aus den Favelas, sichtbarer – und sie vernetzen sich zunehmend global.

#7 Überwachung und Militarisierung

Polizei und Militär setzen auf Provokateure, ein Undercover-Agent spähte sogar Aktivisten bei Tinder aus: Die Überwachung von Bürgern nimmt in Brasilien zu, die Polizei geht brutal gegen Protestierende vor.

Mit den Megaevents wurden Kamerasysteme und die Überwachung aus der Luft, aber auch das Monitoring in Favelas massiv ausgebaut – eine Infrastruktur, die auch nach den Spielen erhalten bleibt.

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Mann erschossen, toter Tourist: Schlaglicht auf die Gewalt

Immer wieder verirren sich Autofahrer und Passanten in Rios Favelas – für manche werden die Siedlungen zur tödlichen Falle. Die Skandale werfen ein Schlaglicht auf das alltägliche Sicherheitsproblem. 

Ein 66-jähriger wurde von Drogengangstern erschossen, als er aus Versehen in eine Favela in Rio fuhr – und offenbar dem Befehl der lokalen Drogengang nicht gehorchte, anzuhalten. Die Kriminellen, die die Favela Vila Vintém kontrollieren, eröffneten das Feuer auf ihn, er starb im Krankenhaus an den Verletzungen.

Erst vor einer Woche wurde der italienische Tourist und Motorradfahrer Roberto Bardella getötet, als er mit seinem Cousin in der Innenstadtfavela Morro dos Prazeres im Stadtviertel Santa Teresa landete. Die Kriminellen hielten ihn und seinen Begleiter für Polizisten und schossen auf Bardella, als sie an seinem Helm eine Kamera entdeckten.

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Vorfälle wie diese Geschehen immer wieder, denn die von Drogengangs beherrschten mehr als 1000 Favelas von Rio sind über die ganze Stadt verteilt. Im Herbst 2015 führte ein digitaler Irrtum ein älteres Ehepaar in eine tödliche Falle – die Navi-App Waze landete sie statt zu ihrem Ziel in eine Favela in Niteroi, wo die Frau erschossen wurde.

Der eigentliche Skandal sind allerdings nicht die Einzelfälle, sondern das Problem, auf das sie ein Schlaglicht werfen: Zahlreiche Regionen in Rio de Janeiro werden von Kriminellen territorial kontrolliert, regiert und terrorisiert – auch nach der Fußball-WM und den Olympischen Spielen mit der massiven Polizeipräsenz und einer neuen Polizeistrategie, die auch die Sicherheit in einigen Favelas herstellen sollte.

Stattdessen tobt die Gewalt, immer wieder sterben Menschen. Die, die am meisten von der Gewalt und den Konflikten betroffen sind, sind zudem nicht Touristen oder Brasilianer, die sich manchmal mit tödlichem Ausgang in die Viertel verirren, sondern die Bewohner der Favelas. Immer wieder werden Bewohner erschossen, geraten ins Kreuzfeuer von Polizei und Drogengangs. Das Sicherheitsrisiko ist für sie Alltag.

Polizei und Kriminelle als Komplizen: Mordkomplott gegen Polizeichefin

In Rios größter Favela Rocinha planten Drogengangster die Ermordung der Polizeichefin der Befriedungspolizei UPP. Polizisten halfen ihnen dabei. Der korrupte Polizeiapparat in Brasilien verhindert eine effektive Bekämpfung der Kriminalität.

Eine kleine Frau, dunkle Locken, sympathisches Lachen: Pricilla Azevedo sollte der Polizei wieder ein nettes Gesicht verleihen, das Versprechen der Befriedungspolizei UPP einlösen, eine Polizei der Nähe zu sein. Sie hatte Major Edson als Chef der Einheit ersetzt, einen ehemaligen Soldat der BOPE-Spezialeinheit. Er war mit weiteren Polizisten verhaftet worden: Sie hatten den Favelabewohner Amarildo festgenommen, zu Tode gefoltert, die Leiche verschwinden lassen – und das letzte Vertrauen in die UPP zerstört, auch weit über die Favela Rocinha hinaus.

Azevedo stand für einen sozialen Policing-Ansatz, der die Bevölkerung wieder mit der Polizei versöhnen sollte. Doch Drogengang und auch Kollegen von Azevedo sahen in der neuen Chefin vor allem einen Störfaktor für ihre Geschäfte.

Mehrere korrupte Polizisten, die mit dem Drogenboss Rogerio kooperierten, verrieten ihm ihre Arbeitsroutine – und legten ihm nahe, die Polizeichefin schnell zu töten – damit erneut ein Ex-Elitesoldat an ihre Stelle rücken könnte. „Er ist ein Freund von uns, und er liebt Geld“, schrieb ein Polizist an den Drogenboss – also ein guter Deal für alle Seiten. Im Februar 2014 wurde der Plan entdeckt, erst jetzt hat die Justiz den geplanten Mordanschlag öffentlich gemacht.

Azevedo wurde versetzt, sie ist heute Polizeisprecherin der Befriedungspolizei – zu dem geplanten Mordanschlag auf sie hat sich die Polizistin bisher nicht geäußert.

Drei Tage Schießereien, 7 Menschen angeschossen im Complexo do Alemão

Foto: BuzzingCities

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Foto: Facebook/Papo Reto

Foto: Facebook/Papo Reto

Bei heftigen Schusswechseln wurden im Complexo do Alemão im Norden von Rio mehrere Menschen angeschossen, darunter eine ältere Frau, ein 14-Jähriger und zwei Polizisten. Drei junge Männer starben.

Zuerst wurden bei einer Schießerei zwei junge Männer angeschossen und starben im Krankenhaus an ihren Verletzungen. Drogengangs griffen danach eine der Polizeistationen im Alemão an – die Schüsse schlug auch in die Seilbahnstation nebenan ein sowie in Bars und Läden in der Nähe.

Die Bewohner mussten stundenlang warten, bevor sie nach Hause zurückkehren konnten, auch Busse verkehrten innerhalb der Favelasiedlungen nicht mehr. Spezialeinheiten verstärkten die Polizeipräsenz im Alemão, auch Nachts gingen die Schießereien weiter: Zwei Polizisten wurden bei einem Angriff angeschossen, einer durch einen Streifschuss im Gesicht, der zweite verletzte sich an der Hand.

Bei einer Schießerei am darauffolgenden Tag wurde erneut ein junger Mann getroffen. Spezialkräfte der BOPE rückten in die Favelas ein, und führten eine Operation durch – Tagsüber und Nachts folgten weitere Schusswechsel, Läden und Bars wurden geschlossen. Eine ältere Frau wurde von einem Querschläger getroffen, ein junger Mann wurde angeschossen und starb noch an Ort und Stelle an den Verletzungen.

Paralympische Spiele: Improvisation, Underdogs und Emotionen

Und dann doch wieder ein Happy End: Mit viel Improvisation und Last-Minute-Zuschüssen konnten die Paralympischen Spiele trotz Schweiss und Panik doch noch erfolgreich durchgeführt werden — obwohl die Rahmenbedingungen so schwierig waren wie nie zuvor. Sportler aus zehn Ländern konnten fast nicht teilnehmen, weil die Reisekosten nicht wie vereinbart überwiesen worden waren, Sparkurs für Spielstätten und Personal gefährdeten die Organisation der Spiele. “Was man aus Rio als Lektion mitnehmen sollte, ist, dass man frühzeitig kommunizieren sollte“, so Philip Craven, Präsident des Internationalen Paralytischen Komitees. „Wenn es ein Problem gibt, lass es uns wissen und warte damit nicht bis sechs oder sieben Wochen, bevor die Spiele beginnen sollen.“

Improvisation nach dem Baukastenprinzip

Brasilien wäre nicht Brasilien, wenn das Land nicht doch noch in der Not einen Ausweg, einen „Jeitinho“, finden würde. In der Geldnot wurden nach dem Baukasten-Prinzip etwa Stätten gestrichen, die sowieso nur temporär und dann rückgebaut werden sollten. Auch aus Brasilia wurde kurzerhand wieder Geld zugeschossen (dessen Fehlen sich erst nach dem Abschluss der Spiele richtig bemerkbar machen wird).

Spiele für alle

90 Prozent der Eintrittskarten für die Paralympischen Spiele wurden an Brasilianer verkauft, 10 Prozent an Ausländer (Olympische Spiele: 70 Prozent an Brasilianer, 30 Prozent an ausländische Gäste). Wie bereits bei den Olympischen Spielen wurden auch bei den Paralympics wieder Freikarten an soziale Organisationen, auch in Rios Favelas verteilt, damit die Ränge doch noch besetzt werden. Viele Tickets wurden zudem für Sonderpreise für umgerechnet wenige Euros verkauft, die sich selbst ärmere Brasilianer leisten können.

Empathie mit den Underdogs

Sportler, die oft persönliche Schicksalsschläge, lange Krankenhausaufenthalte, manche sogar Koma überwunden haben und dennoch Bestleistungen zeigen: Die Paralympischen Spiele erzählen noch stärker als die Olympischen Spiele Erfolgsgeschichten von Menschen, von Underdogs, die sich durchbeissen mussten, und mit denen sich auch viele Favelabewohner identifizieren können – wie mit dem ehemaligen Hausmädchen Rosinha dos Santos, die ein Bein verloren hat und heute als Diskuswerferin erfolgreich ist.

Das mindert zwar nicht die grundsätzliche Kritik an den Millionenausgaben für die Sportevents, doch den Paralympics-Athleten wird kaum vorgeworfen, dass sie persönlich profitieren und kassieren, während die Kassen des Gastlandes Brasilien in katastrophaler Lage sind. Wie schon bei den Olympischen Spielen engagieren sich auch Bewohner von Rios Favelas bei den Paralympics – wie der Bürgerreporter Rene Silva aus dem Complexo do Alemao, der im Kommunikationsteam tätig ist und auch immer wieder live von den Schauplätzen der Paralympics streamt.

Screenshot Facebook

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Das Brett zur Freiheit

Für Monique Oliveira bedeutet Surfen eine besondere Freiheit – denn die Brasilianerin ist gelähmt. Am Strand von Rio de Janeiro erobert sie sich ein Stück Unabhängigkeit zurück.
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Wenn Monique Oliveira die Welle bekommt, hält sie sich mit beiden Händen fest, konzentriert und lachend zugleich, läßt sich bis zum Strand treiben. Es ist anstrengend für den Körper, aber das Gefühl der Leichtigkeit und Freiheit gleicht die Anstrengung aus. Auf dem Surfbrett über Wellen zu gleiten ist für Monique Oliveira eine ganz besondere Freiheit: die Brasilianerin ist gelähmt – doch ein Tag auf dem Wasser macht sie so frei wie nichts anderes in ihrem Leben.

Rio de Janeiro ist eine Surferstadt, Menschen in Neoprenanzügen und mit einem Bodyboard oder einem Surfbrett unter dem Arm gehören ins Stadtbild. Doch für Monique bedeutete Surfen zu lernen viel mehr, als nur auf einem Brett über das Wasser zu gleiten. Für Monique ist Surfen ein Wendepunkt in ihrem Leben.

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Kampf gegen Vorurteile

Monique Oliveira lebt mit einer Zerebralparese. Ein Sauerstoffmangel bei der Geburt beschädigte Teile ihres Gehirns, die Bewegungsabläufe koordinieren. Ihre Motorik ist holpriger, nicht alles läuft im Alltag leicht. Ein Surfbrett zu tragen oder einen Namen zu schreiben dauert länger und geschieht nicht so reibungslos wie es die meisten gewohnt sind. Monique nimmt den Stift und kratzt die Buchstaben auf das Papier: “Ich muss eine neue Seite anfangen, weil ich mehr Platz zum Schreiben brauche als andere.” Auch das Sprechen fällt ihr schwerer. Continue reading

Raus aus der Favela

In keinem Land der Welt gibt es so viele Hausmädchen wie in Brasilien – seit Kolonialzeiten schuften Arme in den Häusern der Reichen. Doch jetzt durchbricht eine neue Generation aus den Favelas den Kreislauf.

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Unten rasen Motorradtaxis auf der steilen Straße entlang, vor der Terrasse wachsen die Ziegelhütten von Rio de Janeiros größter Favela Rocinha den Berg hinauf. Michel Silva tippt konzentriert in sein Macbook. Seine Mutter blickt ihm dabei über die Schulter, einen Computer hat sie noch nie benutzt: “Ich gehe lieber in die Kirche”, sagt Dona Jô.

Die 63-Jährige kann kaum schreiben und lesen, ist nur ein paar Jahre zur Schule gegangen. Sie hat ihr Leben lang für wenig Geld geschuftet. Für Favelabewohner gab es bisher kaum Aufstiegschancen – doch ihre Kinder haben andere Pläne.

Die Geschichte von Dona Jô und ihren drei Kindern ist auch die Geschichte eines krisengeschüttelten Landes im Umbruch, in dem immer mehr Favelakinder nicht mehr als billige Arbeitskräfte für die Wohlhabenden arbeiten wollen – und stattdessen von Universität und Karriere träumen. Sie nehmen die tiefe Spaltung des Landes in Arm und Reich nicht mehr einfach hin.

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