Nach dem Tod des jungen Tänzers “DG”, der bei einer Schießerei zwischen Polizei und Drogengang getötet und möglicherweise von Polizisten umgebracht wurde, protestieren Favelabewohner jetzt in sozialen Netzwerken gegen die Gewalt: “Ich verdiene es nicht, ermordet zu werden”, ist die Botschaft, die sie virtuell verbreiten, etwa auf Facebook, Twitter und Instagram. Die Social Media-Kampagne soll Solidarität mit dem getöteten “DG” ausdrücken und gibt jungen Favelabewohnern, die in der Öffentlichkeit oft als Kriminelle wahrgenommen werden, ein Gesicht.
Category Archives: Gesichter
Mars da Favela: “Crystals not Pistols”
Als die australische Rapperin und Schmuckdesignerin Mars Castro 2010 zum ersten Mal nach Rio kam, verknallte sie sich – in Rio und einen jungen Mann aus der Favela Rocinha. Sie ließ sich von lokaler Kultur und der Drogengang inspirieren – und verwandelt jetzt Munition in tragbare Kunst. In English, please.
Was hattest du für eine Vorstellung von Favelas, bevor du Rocinha besucht hast?
Das Einzige, was ich über Favelas wusste, war, dass es dort Baile Funk und Funk-Partys gibt. Ich bin Rapperin und bin nach Brasilien gekommen, um mit DJ Marlboro zu arbeiten. Aber er hängt nicht in den Favelas herum, er ist ziemlich kommerziell geworden. Es war so gedacht, dass wir ihn als Teil seiner großen Groupie-Gefolgschaft überall hinbegleiten sollten, von der VIP-Loge bei seinen Gigs zu seinem Haus – das war ganz schön sexistisch. Ich habe mich dann nach einer Weile von der Gruppe verabschiedet, weil ich authentische Leute kennenlernen wollte.
Wie hast du dann die Favela Rocinha entdeckt?
Ich habe einen Mann aus der Favela kennengelernt – und er war völlig anders als die Leute vom „asfalto“, also die, die nicht in einer Favela wohnen, und anders als die Möchtegerns, mit denen ich meine Zeit verbracht hatte. Er war authentisch und nicht so abgehoben.
Als ich alle seine Freunde, seine Familie kennenlernte, hatte ich endlich das Gefühl, Cariocas richtig kennenzulernen und mit einer großen Community herumzuhängen. Eine endlos lange Lovestory später fand ich mich in der Favela Rocinha wieder, wo ich mit ihm und seiner Familie lebte. Er ist jetzt mein Ehemann – und wir leben mit einem Fuß in Melbourne, Australien, und mit dem anderen in Rocinha, Rio.
Wie würdest du die Atmosphäre in der Favela beschreiben?
Rocinha ist für mich mein zweites Zuhause. Es ist eine tolle, lebendige Community, voller liebenswerter Menschen, die hart arbeiten. Als ich mit reicheren Brasilianern unterwegs war, habe ich aber erlebt, dass es immer noch ein großes Stigma ist, in einer Favela zu leben und wie groß die Kluft zwischen der Arbeiterklasse aus der Favela und den Wohlhabenderen ist.
Die Medien heizen das Vorurteil an, dass Favelas gefährliche Orte sind, aber du kannst den Mainstream-Medien nicht vertrauen. Natürlich gibt es in der Favela Waffen und Drogengangs – aber eine Favela ist kein rechtloser Ort. Keiner rennt herum und schießt einfach so auf Menschen, wie es in Filmen oder in den Nachrichten oft dargestellt wird.
Die einzige Ordnung die ich in Rio jemals gesehen habe, war in der Favela. Es gibt dort die Gesetze der Favela: Keine Morde, kein Diebstahl, keine Vergewaltigungen, keine Gewalt – das wird alles nicht toleriert. Ich habe mich in der Favela viel sicherer als außerhalb der Favela gefühlt. Dieses Gesetz, dass der Chef der Favela geschaffen hat, soll absichern, dass es in der Favela friedlich und ruhig ist und dass die Polizei draußen bleibt – damit die Drogendealern ungestört ihren Geschäften nachgehen können. Sie können nicht aus der Favela heraus, weil sie dann verhaftet werden würden – also versuchen sie sich die Favela zu einem möglichst angenehmen Ort zu machen.
Ich habe Nem, den Boss, getroffen, bevor er verhaftet wurde und er hat Geld aus dem Drogengeschäft ausgegeben, um Reparaturen und Bauarbeiten in der Favela zu bezahlen, er hat ärmeren Bewohnern Geld für Medikamente gegeben und für die jüngeren Leute Partys geschmissen. Die Drogengangs haben in den letzten 30 Jahren die Infrastruktur aufgebaut, auch die Wasserversorgung. Die Regierung wollte nichts mit den Favelas zu tun haben – für den Staat sind Favelas Probleme, die nicht mal auf der Karte erscheinen. Continue reading
Favela-Reporter Michel Silva: “Alles spielt sich heute im Internet ab”
Kaputte Straßen, einstürzende Häuser, Favelakultur: Auf der Onlineplattform Viva Rocinha und auf Facebook und Twitter berichtet Michel Silva jeden Tag darüber, was in der Favela Rocinha passiert. Zusammen mit seiner Schwester Michele hat der 19-Jährige das Portal Ende 2011 gegründet. Sie wollen Probleme sichtbar machen – aber vor allem “die guten Seiten” der Favela zeigen.
Bevor er in die Schule geht, scannt er die Nachrichten, aktualisiert Beiträge, läuft dann nachmittags durch die Favela – die meisten Geschichten entdeckt er auf der Straße.
Als wir mit ihm durch die Rocinha spazieren, rasen Feuerwehrautos an uns vorbei – Michel zückt sofort sein Handy, fotografiert das Geschehen, spricht mit einem der Feuerwehrmänner.
Sekunden später erscheint die Nachricht auf der Facebookseite von “Viva Rocinha”: Der Brand war durch einen Stromadapter ausgelöst worden, das Feuer ist bereits unter Kontrolle.
Falls Misstände nicht sofort behoben werden, hilft Michel Silva nach, veröffentlicht das Problem im Internet und twittert die zuständigen Behörden an: “Alles spielt sich heute im Internet ab”, sagt der Favela-Reporter.
In Kürze erscheinen das komplette Video und ein Interview mit Michel Silva.
Der öffentliche Tod von MC Daleste
Favela-Funkeiros leben gefährlich – mit ihren Tracks können sie ins Visier von Drogenbanden oder Militärpolizei geraten. Am vergangenen Samstag wurde der erst 20-jährige MC Daleste bei einem Konzert erschossen.
Scheppernde Baile Funk Beats dröhnen, MC Daleste brüllt portugiesische HipHop-Reime ins Mikrofon, auf einmal sackt er in sich zusammen, von zwei Schüssen getroffen, die Fans schreien, Chaos bricht aus.
Am vergangenen Samstag wurde der erst 20-jährige Funkeiro bei einem Konzert in Campinas, São Paulo, erschossen und starb wenige Stunden später im Krankenhaus an den Verletzungen.

Digitales Trauern: Auf MC Dalestes offiziellem Facebook-Account posten Freunde und Fans Fotos von ihm und seiner Beerdigung (Screenshot)
Es war ein öffentlicher Tod: Etwa 1000 Zuschauer waren bei dem Konzert anwesend, sie reckten die Hände in die Höhe, filmten mit dem Mobiltelefon mit – auch den Mord an dem Rapper. Das Kriminalistische Institut (IC) in São Paulo wertet aktuell Handyvideos von Augenzeugen aus, um Hinweise auf die Mörder zu finden. Continue reading
Marcello Mendes: Hoch hinaus
Eine Begegnung mit einem Weltmeister aus der Favela Rocinha, der eine tragische Geschichte hat
Live aus der Favela #6: Der Fußballkopfkickweltmeister from Buzzing Cities on Vimeo.
Heute sind wir einem der Promis der Favela Rocinha begegnet. Er wollte uns unbedingt ein Autogramm geben – ohne, dass wir wussten, wer er war. In der Favela ist man auch freundlich zu Menschen, die man nicht kennt. Also zusammengeknüllten Notizzettel herausgekramt, Kuli. Und er schreibt darauf: “Für meine Fans, in Liebe. Marcelo.”
Wie er uns nach dieser Gesprächsanbahnung eröffnete, ist Marcelo Mendes Fußballweltmeister, Fußballkopfkickweltmeister genaugenommen. Gewesen. Er kann einen Fußball stundenlang mit dem Kopf in die Luft kicken, notfalls auch zwei. Und das sechs Stunden und zwei Minuten lang. Er fing gleich an, es vorzuführen und hätte auch locker noch ein paar Stunden durchgehalten – wir leider nicht.
Tanz mit dem Ball
Wir haben in der Vergangenheit zwar ehrgeizig trainiert, um unsere Futevólei-Kenntnisse zu erweitern, und den Ball wie alle Brasilianer am Strand wenigstens ein paar Mal mit Kopf oder Körper in die Höhe zu kicken – aber Zuschauen ist dann doch langweiliger, als es selbst zu tun.
Marcelo ist trotzdem freundlich geblieben und hat uns den Trick verraten, wie sich eine Halsstarre vermeiden lässt: er schaukelt die ganze Zeit mit dem Oberkörper hin- und her, als würde er tanzen.
Mit seinen Fähigkeiten hat Marcelo es sogar bis ins Guiness Buch der Rekorde geschafft – der Erfolg seines Lebens. Allerdings wurde er aufgrund eines Fehlers aus dem Buch gestrichen, obwohl er eigentlich noch Rekordhalter war. Seitdem versucht er die Welt aufzuklären, dass er immer noch der rechtmäßige Fußballkopfkickweltmeister ist und trägt ein T-Shirt mit einem Foto von sich und genauen Angaben zu seinen Rekorden. Wir drücken ihm die Daumen, dass es spätestens im kommenden Jahr klappt – immerhin das Jahr der brasilianischen Fußball-WM.
Und hier tritt Marcelo in einem Werbespot der brasilianischen Telekommunikationsfirma TIM auf. So cool ist wohl noch niemand mit dem Fußball durch die Rocinha spaziert:
PS: Wir sind übrigens auch im Guiness Buch der Rekorde, immer noch. Weil wir uns 2012 am höchsten Wasserfall von Lesotho abgeseilt haben, 200 Meter. Ungelogen.