Post in der Favela Rocinha II: “Internationales haben wir hier selten”

Trotz Email, Instagram und Facebook möchte man manchmal gute alte Postkarten verschicken. Man kann die Dauer ihres Weges nicht abschätzen, nicht mal wissen, ob sie überhaupt ankommen, wenn sie in Rio aufgegeben werden. Aber es war das Ziel, mehr als ein Dutzend Karten aus der Favela Rocinha abzuschicken, an Freunde des Crowdfundingprojekts.

Post the old way: Karten aus der Favela Rocinha (credits:J.Jaroschewski/BuzzingCities)

Post the old way: Karten aus der Favela Rocinha (Foto: J.Jaroschewski/BuzzingCities)

Ja, es gibt sogar ein Postamt mitten in der Rocinha. Kein richtiges Amt, aber einen Raum, in dem zwischen Kisten mit Briefen und Päckchen und zwei Schaltern immer eine Postangestellte sitzt. Die alles macht: Karten annehmen, die Zahlungen für Stromrechnungen einiger Bewohner administrieren, Päckchen aushändigen.

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Nicht selten bildet sich eine kleine Schlange, die sich bis nach draußen vor die Tür drängelt. Mein erster Versuch für den “Großversand” scheiterte an der Mittagspause. Ich war ausgerechnet in der Zeit zwischen 12 und 14 Uhr gekommen. Die Öffnungszeiten des Favelapostamtes: 10 bis 12 Uhr und 14 bis 17 Uhr.

Versuch II: Weniger Karten

Beim zweiten Versuch war die Schlange lang, und als ich an der Reihe war, warnte ich den Mann hinter mir, dass es etwas länger dauern könnte. “Kein Problem”, sagte der. Brasilianer sind es gewohnt zu warten: Im Vergleich dazu, wie oft und lange ich schon in brasilianischen Postämtern angestanden habe, war das Favela-Erlebnis eigentlich harmlos.

Post the old way: Karten aus der Favela Rocinha (credits:J.Jaroschewski/BuzzingCities)

Postamt Favela Rocinha (credits:J.Jaroschewski/BuzzingCities)

Post the old way: Karten aus der Favela Rocinha (credits:J.Jaroschewski/BuzzingCities)

Selbst gedruckte Karten aus der Favela Rocinha (credits: BuzzingCities)

Unsere Postkarten sind selbstgeschossene und in der Favela ausgedruckte Fotos. Das ist zum Glück kein Problem, da die Marken auch in Brasilien mittlerweile Sticker sind und auch auf Fotopapier haften. So begann die Postfrau, jede der Karten mit drei Marken zu bestücken und endete dann mit einer überraschten Miene bei Nr. 11, denn ihre Briefmarken waren aufgebraucht: “International haben wir hier eigentlich nicht oft”, sagte sie – also eigentlich gar nicht. Sie müsse dafür den Tresor öffnen, das würde aber 40 Minuten dauern.

“Den Tresor?” Continue reading

Streifzug durch die Rocinha: Was sich verändert hat

Nach eng getakteten Interviews und den Protesten sind wir heute endlich dazu gekommen, einen ganzen Tag lang nur durch die Rocinha zu laufen, zu sehen, was sich verändert hat, wo neue Häuser den Berg hinaufwachsen, Straßen aufbrechen, Graffiti die aktuellen Konflikte widerspiegelt und sich neue Favela-Start-Ups angesiedelt haben. Dazu wie immer Katzen, die auf Waschmaschinen chillen, kläffende Hunde, Moto-Taxi-Gewimmel auf den schmalen Straßen, viel Dreck und Müll und rutschige Balanceakte durch das Labyrinth der Gassen. Back Home.

Rocinha – Rios größte Favela (Foto: BuzzingCities)

Rocinha – Rios größte Favela (Foto: BuzzingCities)

Labyrinth aus Gängen (Foto: BuzzingCities)

Labyrinth aus Gängen (Foto: BuzzingCities)

Favelabeat (Foto: BuzzingCities)

Favelabeat (Foto: BuzzingCities)

In der Rocinha wird immer irgendwo gebastelt und gebaut. Familien stapeln noch ein neues Stockwerk auf ihr Haus, Mitarbeiter der Stromfirma Light versuchen von wackeligen Leitern aus die brandgefährdeten Kabelbündel zu flicken, Internetanbieter verlegen den Netzanschluss in der Favela.

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Ein ordentliches Kanalisationssystem – eigentlich ein Plan, der bis zu Olympia 2016 angestoßen werden sollte – ist immer noch nicht verlegt. Gerade fließt die Hauptstraße über. Continue reading

Leben in der Favela

 

Wir wollen über die Bedingungen und das Leben, die Erwartungen der Favelabewohner berichten, zeigen, was in den Armenvierteln passiert.

Deswegen sind wir ja hierher gezogen, weil es eben anders ist, einen oder zwei Tage oder zwei Wochen tagsüber hier vorbeizuschauen als tatsächlich die Nächte, den Alltag zu jeder Tageszeit und Witterung zu erfahren. Wir wohnen immer wieder in der Rocinha und viele fragen uns, wie wir eigentlich leben.

Wir wohnen mit den Einschränkungen, die andere Favelabewohner auch haben, dafür haben wir uns aber bewusst entschieden. Manche Bewohner leben mittlerweile hochwertiger, habe ihre Hütten ausgestattet mit TV und Küchenmaschinen, Waschmaschine und Herd, manche hausen in noch viel schlechteren Konditionen, in den Hütten aus Holz.

Wasser

Wenn das Wasser ausfällt, ist das ärgerlich, besonders wenn man einen Termin hat – keine Dusche, keine Toilette, nichts zum Abwaschen oder Kochen. Trinken kann man es eh nicht. Dieser ständige Regen draußen ist manchmal die einzige Alternative: mit Regenwasser im Waschbecken die Haare waschen. Danach ist man auch etwas geduscht, nur vollkommen unterkühlt – und drinnen ist es genauso feucht und kalt. Der Regen hat sich durch die Wände gefressen. An vielen Ecken bleibt auf dem Finger ein nasser Film, wenn man über die Mauer fährt. Die Kleidung ist klamm, die Decken zum Schlafen auch, nur die Handtücher können ein wenig hinter dem Kühlschrank an den Heizstäben trocknen. Continue reading

FavelaWM im Friseursalon

Zitterpartie, Spieler, die vom Platz getragen werden, entnervte Trainer, SchnippSchnapp – Deutschland gegen Algerien, im Favela-Friseursalon “Bem Bolado” in der Rocinha. Drinnen sitzen nur Männer, die über Fußball fachsimpeln, den Sieg von Costa Rica feiern, einer tippt, das Argentinien WM-Sieger wird. Der Friseur meint, er sei für Deutschland – und für Brasilien. Doch leider muss er sich auf die Haare konzentrieren. Das Ergebnis: ein bisschen besser als beim letzten Mal.

 

Zitterpartie zum Achtelfinale

 

Beten, Zittern, T-Shirt über den Kopf: Viele Favelabewohner wollten heute gar nicht hinsehen – so sehr bangten sie um den knappen Sieg. Dann die Erlösung – und die Favela rastete aus, als Brasilien im Achtelfinale gegen Chile siegte.

Die Ghana-Lobby

9:2, eindeutig. In der Favela-Bar, in der wir uns heute das Spiel angesehen haben, standen alle Gäste auf Ghanas Seite. Das ist gut so – aber überraschend. Ein Bekannter hatte sich beim Public-Viewing an der Copacabana vor kurzem gewundert, warum die Brasilianer kaum für afrikanische Mannschaften klatschen – obwohl Brasilien ein Land mit einem hohen Anteil schwarzer Bevölkerung und afro-brasilianischer Kultur ist.

Deutschland gegen Ghana: die Rocinha auf der Seite der afrikanischen Mannschaft

Deutschland gegen Ghana: die Rocinha auf der Seite der afrikanischen Mannschaft

Brasilien ist entgegen den Klischees von der harmonischen Mischung der Farben ein ziemlich rassistisches Land. Rassismus existiert auch in den Favelas – innerhalb der Rocinha sehen die (weißen) Einwanderer aus dem Nordosten Brasiliens oft auf die schwarzen Favelabewohner herab.

Afros werden geglättet, Beinhäarchen blondiert, Schönheitsidole sind die blonden Frauen aus der Vorabendserie, die nur ein Ausschnitt Brasiliens sind. Mit der jungen Favelageneration ändert sich das langsam – in manchen Favelas sind Afro-Frisuren der neue Trend, die Jugendlichen entdecken und interpretieren ihre Wurzeln neu.

Da Ghana ein schnelles und gutes Spiel abgeliefert hat: viel Jubel in der Bar. Als Jogi die alte Wunderwaffe Schweinsteiger (Kommentator: “Schweinsteiger sabe tudo”, “Schweinsteiger weiß alles/hat es drauf”) dann einwechselte: betrübte Mienen.

Am Ende hatte dann doch noch einer der Zuschauer Mitleid mit uns, wechselte die Seite und feuerte plötzlich Deutschland laut an. “Unglücklicherweise hat Deutschland nicht gewonnen”, bedauerte er nach Spielende. “Für Euch hätte ich mir gewünscht, dass Deutschland gewinnt.” Wir finden, dass heute alle gewonnen haben.

Selbstversuch: Das missglückte Haar-Tattoo

Haar-Tattoos liegen bei den Jungmännern der Favelas im Trend. Im Rahmen unserer Selbstversuch-Reihe wollte auch ich die Begegnung mit der Rasierklinge wagen. Doch das lief schief.

Schnipp, Schnapp: In der Rocinha gibt es Dutzende Mini-Friseursalons (Foto: BuzzingCities)

Schnipp, Schnapp: In der Rocinha gibt es Dutzende Mini-Friseursalons (Foto: BuzzingCities)

Einrasierte Tribals, Diamanten, Leopardenmuster: Wenn die Favela-Friseure die Rasierklinge ansetzen, verwandeln sich Köpfe in Kunst. Die sogenannten “Haar-Tattoos”, die in anderen lateinamerikanischen Ländern teils fest in der Gangkultur verwurzelt sind, liegen auch in Rios Favelas bei vielen Jungmännern im Trend.

Ein Besuch in einem der Friseursalons der Rocinha steht schon seit längerem auf unserer Liste der Favela-Selbstversuche – warum also nicht gleich ein Haar-Tattoo wagen? Als ich mir dann in einem Youtube-Video angesehen habe, wie die Muster mit einer Rasierklinge in die Kopfhaut geschnitten werden, hätte ich es mir allerdings fast anders überlegt. Es sah ziemlich schmerzhaft aus, eher nach Skalpierung als nach Friseurbesuch.

Kunst auf dem Kopf: So sehen Haartattoos eigentlich aus (Foto: BuzzingCities)

Kunst auf dem Kopf: So sollten Haartattoos aussehen (Foto: BuzzingCities)

Gestern ergab sich auf einer Veranstaltung spontan die Gelegenheit, sich ein kostenloses Haar-Tattoo von Haar-Tattoo-Künstlern rasieren zu lassen, die auch auf Wettbewerben gegeneinander antreten. In der Schlange davor standen Dutzende an – nur Männer.

“Schneidet ihr hier auch Frauen die Haare?”

“Du meinst, so normal schneiden?”

“Nein, rasieren und dann etwas auf den Kopf ritzen.”

“Ja, klar.”

Eine Frau reicht uns ein Blatt mit Fotos, zur Anregung. Lauter Köpfe, darauf die Comic-Figur Betty Boop oder eine gesamte Skyline Rios, über der der Christus thront.

“Wir wissen schon, was wir wollen.”

“Was denn?”

“Der Hinterkopf soll abrasiert werden und dann soll das Wort Rocinha hineingeschrieben werden.”

“Rocinha???!”

“Ja, Favela Rocinha, da wohnen wir.”

“Aha, cool. Ja, das geht.”

Anstehen in der Männerhorde, vorne ritzen die Friseure mit Geduld und Hingabe an den Köpfen herum. Ein paar Leute machen Fotos, weil wir die einzigen Frauen in der Reihe sind. Und gerade als ich aus der Schlange treten will, um es mir doch nochmal zu überlegen, winkt mich einer der Friseure zu sich. Keine Chance, zu entkommen.

“Soll ich dir die Haare schneiden?”

“Nein, kannst du mir den Hinterkopf rasieren und ein Wort hineinschneiden: Rocinha?”

“Aber das ist ein ziemlich langes Wort, soviel Platz hast du nicht auf dem Kopf.”

“Dann musst du das Wort eben ganz klein schreiben – oder mehr abrasieren.”

“Ich schau mal.”

Vor ein paar Minuten hat der Künstler mit der Klinge noch einem jungen Mann einen Diamanten, auf den Hinterkopf geritzt, ihm Strahlen, die am Nacken enden, hineingeschnitten, dann den Diamanten mit Haarfarbe blau und rot ausgemalt. Jetzt soll er einer Frau eine Favela auf den Kopf ritzen. Frauen lassen sich hier normalerweise nicht einmal die Haare rasieren.

Er hängt mir erstmal den schwarzen Friseurumhang über, unter dem ich in den kommenden 30 Minuten schwitzen werde. Dann muss ich den Kopf nach vorne beugen, er setzt den Rasierer hinten an. Alle in der Reihe sehen zu. Rechts und links fallen die Haare herunter, er fitzelt minutenlang mit der Klinge hinter meinen Ohren herum. Mein Nacken schmerzt. Er setzt die Klinge an, tut gar nicht weh, er scheint auch übervorsichtig zu sein.

“Da hinten ist ganz schön wenig Platz”, sagt er. “Und du hast ziemlich dünne Haare.”

Normalerweise schneidet er Jungmännern mit Afros, krausen Haaren, dichten Locken den Kopf.

Ich sehe nicht, was er macht, sehe nur, wie Haare nach vorne fallen. Ich habe das Gefühl, dass er minutenlang an einer Stelle herumschneidet, frage mich, was so lange dauert.

“Er versucht es zu retten”, sagt Julia. “Er weiß nicht so recht, was er machen soll.”

Na wunderbar.

Dann malt er mit einem Haarfarbe-Stift auf meinen Hinterkopf. Ein paar Minuten später darf ich wieder aufstehen.

Als ich mich zur Seite drehe, ein entsetzter Blick von zwei Mädchen.

Leute kichern, als ich durch die Straßen laufe.

Ein Bekannter fragt: “Wo hast du dich denn anmalen lassen?”

Ich sehe es erst, als ich zuhause ankomme. Die Haare sind nur drei Zentimeter abrasiert unten, der Friseur hat sich wohl nicht getraut, noch mehr zu entfernen. Natürlich ist es unmöglich, in diesen Mini-Abschnitt sieben Buchstaben – “Rocinha” – mit einer Klinge hineinzuritzen.

“Rocinha” hat er mir dafür mit dem Filzer eher auf den Hals gemalt – es sieht aus wie die ersten Pseudo-Spray-Versuche von meinem damals 12-jährigen Bruder. Dafür hat er über den Buchstaben die Haare im Zick-Zack abrasiert.

Die Farbe hat sich zum Glück heute Morgen in der Dusche gleich abgewaschen. Zurück bleiben drei abrasierte Zentimeter, die in einer ziemlich hässlichen Zick-Zack-Linie enden.

Haar-Tattoo: Dieser Selbstversuch ist leider schief gelaufen (Foto: BuzzingCities)

Haar-Tattoo: Dieser Selbstversuch ist leider schief gelaufen (Foto: BuzzingCities)