In der Fußballnation Brasilien sind die Favelados besonders verrückt nach dem runden Leder – in der Favela Rocinha konnten am Mittwoch selbst Schießereien der Leidenschaft der Fans nichts anhaben.
Fußball ist Religion in Brasilien. Jetzt trägt selbst der Christus, das Wahrzeichen der Stadt, ein schwarz-rotes Trikot – zumindest auf Fotos, die seit Mittwoch massenweise in den sozialen Netzwerken zirkulieren. Es sind die Farben des populären Fußballclubs Flamengo, der jetzt noch beliebter ist: Am Mittwoch hat Flamengo sich bei der “Copa do Brasil 2013” den Titel des brasilianischen Meisters geholt.
In der Favela sind 99,9 % der Bewohner Flamengo-Fans und die ganze Favela fieberte vor dem Fernseher mit – entweder zuhause, oder in einer der unzähligen Mini-Bars in den Gassen und Straßen der Favela, in die, egal wie klein sie sind, immer noch ein Fernseher passt (die Flachbildschirmfernseher sind oft das modernste in den Bars). Schon Nachmittags wurden die ersten Raketen abgeschossen, um auf das Spiel einzustimmen, nach dem Anpfiff knallte es ständig.
An Tagen wie diesen gehören die Raketen zum Grundrauschen des Soundteppichs in der Favela, man gewöhnt sich daran, blendet es aus. Bis das Knallen Mittwochnacht auf einmal keine Raketen mehr waren, sondern Maschinengewehre. Mitten während des Fußballspiels lieferten sich Mitglieder der Drogengang, die gerade um die Macht in der Rocinha kämpfen, einen Schusswechsel.
Die Bewohner, die sich in den offenen Bars am Straßenrand das Spiel ansahen, brachen in Panik aus. Nach etwa einer halben Stunde, in der sich die Gassen rasant geleert hatten, wurde es wieder ruhig. Da das Spiel weiterlief, zog ihre Leidenschaft die Fußball-Fans trotz Angst schnell wieder auf die Straßen zurück. Mit Tröten und Geschrei verfolgten sie das Spiel zwischen Flamengo und Atlético-PR, Jubel und Buhrufe liefen wellenförmig über den ganzen Hügel der Favela hinweg. Für blinde Fußball-Kommentatoren wäre die Favela ein idealer Seismograph gewesen: Man konnte den Spielverlauf erahnen, ohne hinzusehen.
Als Flamengo das 2:0 schoss, rastete der ganze Hügel aus, nach dem Abpfiff schien die Favela vor lauter Raketen zu explodieren, Leuchten überall. Wir haben leider nur einen kleinen Ausschnitt aufgenommen, der nicht besonders spektakulär ist:
Gleichzeitig wurden Facebook und Twitter mit einer Lawine von Fanliebe überschwemmt – Herzchen, Fotos von Fans in Trikots, Banner mit Sprüchen, Videos, der Christus im Trikot.
Am nächsten Morgen liefen Dutzende Männer und Frauen in ihren schwarz-roten Fanshirts durch die Favela, manche sogar mit den albernen Hüten, die man normalerweise nur im Stadion trägt. Ein brasilianischer Freund von uns, der als Touristenführer arbeitet, zieht sich immer ein Flamengo-Fußballshirt an, wenn er in die Favela geht, um dort Touren zu machen – er glaubt, dass dann weniger auffällt, dass er nicht aus der Favela kommt. Am Tag nach dem Spiel hätte seine Strategie tatsächlich einmal aufgehen können.
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