Amarildo de Souza wurde vor zwei Wochen bei der Groß-Razzia in der Rocinha festgenommen, seitdem ist er verschwunden – und Brasilianer fordern offline und online die Aufklärung des Falls.
Während des Papstbesuchs in Rio de Janeiro hielten Brasilianer Plakate in die Höhe: “Der Papst ist da – aber wo ist Amarildo?” Amarildo de Souza war bis vor zwei Wochen außerhalb der Favela Rocinha in Rio de Janeiro ein unbekannter Mann – Favelabewohner, Maurer, 43 Jahre alt. Doch seit er vor zwei Wochen bei der Polizeirazzia “Paz Armada” in der Favela Rocinha festgenommen wurde, ist er verschwunden – und wurde so zum Gesicht aller Verschwundenen von Rio de Janeiro, deren Schicksal ungeklärt und straflos bleibt.
Am 14. Juli gegen 20 Uhr wurde Amarildo zum letzten Mal gesehen, ein Favelabewohner berichtete einer Reporterin, dass Amarildo gerade auf dem Heimweg durch die Favela gewesen sei, als Polizisten, die in der Rocinha stationiert sind, ihn stoppten, seine Papiere kontrollierten und ihn dann festnahmen. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht.
Dem UPP-Kommandant der Rocinha Edson Santos zufolge soll Amarildo wieder freigelassen worden sein. Rätselhaft: Überwachungskameras in der Nähe der UPP-Station (Unidade de Polícia Pacificadora), die aufklären könnten, wohin Amarildo gebracht wurde, ob er bei der Station der Befriedungspolizei ankam, ob er wieder freigelassen wurde oder was auf dem Weg passierte, fielen aus. Warum, untersucht derzeit eine Untersuchungskommission. Allerdings wurde eine weitere, verstecktere Kamera entdeckt, die die Version der Freilassung von Amarildo nicht belegt.
Hinweise darauf, dass eine Leiche aus der Rocinha auf einer Müllkippe abgeladen wurde, konnten nicht überprüft werden, der Müll war bereits weitertransportiert worden. Dafür fanden die Ermittler im Valao in der Rocinha eine Frauenleiche. Sie untersuchten auch Blutspuren in einem Polizeiauto, diese waren aber nicht von Amarildo.
Amarildos Familie glaubt, dass er tot ist, ihn Polizisten auf dem Gewissen haben. Falls der Tod von Amarildo tatsächlich Polizisten der UPP der Rocinha anzulasten ist, die dauerhaft in der Favela stationiert sind, das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen und das ohnehin beschädigte Image der brasilianischen Polizei aufpolieren sollen, wäre das für die Stadt im Vorlauf der WM – und nach den Sozialprotesten, die den Stand des Gouverneurs Sergio Cabral stark angekratzt haben – ein PR-Gau.
Campaigning per Social Media
Favelabewohner, Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer nutzen die Aufmerksamkeit, die vor den Megaevents auf Brasilien liegt, um den Fall öffentlich zu machen – und die Ermittlungsbehörden zum Handeln zu zwingen. In den sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter schicken Menschen aus, aber auch außerhalb der Favelas, Fotos von sich mit einem Pappschild herum, auf dem sich immer wieder die gleiche Frage wiederholt: “Onde está Amarildo? Wo ist Amarildo?”
Auch auf der Straße fordern sie Aufklärung: In der Favela Rocinha fand eine Demonstration statt, und mit einer Performance am Strand wies eine Aktionsgruppe darauf hin, dass zwischen 2007 und 2013 etwa 35.000 Personen verschwunden sind, unter ungeklärten Umständen. Die Angehörigen von Amarildo haben die Facebook-Seite, auf der sie Informationen verbreiten und Gerechtigkeit fordern, “Onde estão os Amarildos?” – “Wo sind die Amarildos?” – genannt. Denn sein Schicksal ist kein Einzelfall.
Die Amarildos, nach denen keiner fahndete
Keine Ermittlungen, schlampige Ermittlungen oder verfälschte Tathergänge: Gerade Favelabewohner sind in der Vergangenheit häufig Opfer von Gewalt geworden, durch Drogengangs, aber auch durch die Polizei – und die Gesellschaft interessierte kaum, wenn jemand verschwand oder getötet wurde, der sowieso unter dem Generalverdacht stand, Drogengangster zu sein (wie auch beim kürzlichen Massaker im Complexo da Mare).
In dem 2009 veröffentlichten Bericht Lethal Force. Police Violence and Public Security in Rio de Janeiro and São Paulo von Human Rights Watch prangert die Menschenrechtsorganisation an, dass Tötungen/Morde von Favelabewohnern durch Polizisten in vielen Fällen als “Notwehr” deklariert wurden, obwohl Indizien wie gezielte Schüsse in den Hinterkopf einen anderen Tathergang andeuten:
“In many purported “resistance” killings and killings by death squads, police officers take steps to cover up the true nature of the killing, and police investigators often fail to take necessary steps to determine what has taken place, helping to ensure that criminal responsibility cannot be established and that those responsible remain unpunished.”
Amarildo und seine Angehörigen haben immerhin die Öffentlichkeit auf ihrer Seite – Sergio Cabral, Gouverneur von Rio de Janeiro, hat die Angelegenheit zur Chefsache gemacht, hat die Familie in der Rocinha besucht, verspricht Aufklärung. Vor der WM steht viel auf dem Spiel.
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